Scherbengericht: Roman (German Edition)
Leistung des Dackels berichtet. Großartig, er freue sich für ihn, den Besitzer, doch könne er dazu nur seinen schon mehrmals gegebenen Rat wiederholen: Zur Heiligsprechung reiche das nicht, schon gar nicht bei einem Köter! Sigi möge lieber an einen gemeinsamen Auftritt von Herr und Hund in einer dieser Fernsehshows aus Buenos Aires denken. Das könnte ihm womöglich noch einen Batzen Geld einbringen.
»Wie geht es unserem Wotan?«, wollte nun Siegmund von Fritz wissen. Wotan, dem Sohn von … von …
»Der alte Herr ist wieder etwas lebendiger geworden, seitdem ›Möische‹ eine Katze ins Haus gebracht hat. Gott sei Dank haben wir bei der jetzigen Bedrohung diese Katze hier auf dem Berghof. Aber weißt du, der Hantavirus gedeiht sowieso nur im Möischedreck der ›Hiesigen‹. Mach’s gut, Sigi.« Sie legten auf.
Siegmund lobte wieder seinen Dackel, der sogleich an ihm hochsprang und kläffte. »Brav, Lumpi! Gelt, wenn das unser polnisches Frauchen gewusst hätte, sie hätte dich niemals verschenkt.« Der Hund schnappte nach der Leine, er wollte nach draußen. Da wurde ihm bewusst, was er in der Hand hielt und wozu. Die Hundeleine! Er bückte sich mühsam und befestigte sie am Halsband. Ungeduldig riss der Hund ihm die Schlaufe aus der Hand und rannte auf den Ausgang zu.
»Schlimm, Lumpi, halt!«, rief Siegmund so laut und scharf er konnte. Der Dackel duckte sich winselnd vor der verschlossenen Tür, sein Schweif peitschte heftig über den Holzboden. Soll er nur, ich muss ins Badezimmer.
Eine Weile stand er über dem WC , drückte und presste ein wenig Urin in die Schüssel. Darauf ließ er im Waschbecken das Wasser laufen, aber auch dieser Stimulus förderte bei ihm nur ein paar Tropfen zutage. Derweil betrachtete er sich im Spiegel. Die runden, randlosen Brillengläser verleihen meinem Gesicht einen streng geistigen Ausdruck. Aber wie stark er abgemagert war in letzter Zeit. Er zupfte am marineblauen zweireihigen Blazer mit den vergoldeten Ankerknöpfen. Der Sitz war so tadellos wie die Bügelfalten der beigefarbenen Hose, die leider – ja, leider – auf Turnschuhe herabfiel. Noch dazu war der rechte Schuh an der Spitze aufgeschnitten und aus dem Loch ragte die große Zehe mit einem Verband heraus. Der Nagel war vor einer Woche eingewachsen und hatte das Nagelbett entzündet; es war ihm derzeit nicht möglich, den Fuß in einen Schuh zu stecken.
Vor dem Spiegel wandte Siegmund Rohr seinen Kopf über dem Rollkragen des hellgrauen Alpaka-Pullis nach rechts und nach links, so weit es ging. Ja, sein immer noch dichtes graublondes Haar war ringsum kurz geschnitten. Ein Charakterkopf. Alle zwei Wochen wurde er von Kamel Jalil gepflegt, ein Sohn der älteren Lagler-Schwester Clara und Oberfriseur des in Quemquemtréu stationierten Gendarmerie-Bataillons. »Gendarmeríe« nannten sie in diesem Land die Grenzpolizei. Der Scheitel sitzt rechterseits »wie mit dem Messer gezogen«. Das Haar ist weich; wie gern hat Muttis Hand sanft darübergestrichen. Das liegt weit zurück, ist vorbei. Nur mehr Clementine bewunderte ihn jetzt. Sie sieht ihn kommen, er lächelt ihr »gewinnend« entgegen, und sie begrüßt ihn prompt mit dem alten Schlager: »Was kann der Sigismund dafür, dass er so schön ist …« Das ist zwar neckisch gemeint, aber ein Körnchen Wahrheit dürfte schon drinstecken; es rührt ihn immer wieder, als käme es von Mutti. Er pflegt darauf galant zu antworten: »Ich hab die schönen Maderln ned erfunden …« Das singen sie dann im Duett weiter, und wer zufällig dabei ist, klatscht ihnen gebührend Beifall.
Wie untröstlich er damals geweint hat, als der … der … gestorben ist. Niemand hat den unbeugsamen Siegmund je so gesehen, und niemand hat es erfahren: Wie er vor diesem Kamin gesessen ist – auch gestern Abend wieder –, und allen seinen Zarah-Leander-Platten gelauscht hat, die der … der … auch so geliebt hatte. Still pflegte der Freund dereinst vor ihm auf dem Teppich zu liegen, manchmal leise einen wimmernden Ton von sich gebend. Sein Ohrenspiel untermalte die Klänge, und wie er sich da auf dem Boden geräkelt hatte, den herrlichen Melodien lauschend. Manchmal hast du diesen Kopf gehoben, hast die braunen Augen mit einem warmen Blick liebevoll und in Einverständnis auf mich gerichtet. Auch gestern wieder, am Silvesterabend, war ihm das alles gegenwärtig gewesen. Heftig, aber stumm hatte er weinen müssen, vom Eierlikör getrunken, den er nach dem Rezept der Mutter selbst
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