Scherbengericht: Roman (German Edition)
zubereitet hat, und manchmal, unter einer Schmerzwelle, hatte er mit der Faust auf die Armlehne geschlagen, der Blick verschleiert, bis er schließlich den wunderbaren Hundekopf vor sich auf dem Sims gar nicht mehr hatte wahrnehmen können. Erst gestern Abend wieder – ein Jahrhundertabschied voll schmerzlicher Sehnsucht. Da mochte Lumpi ein Telepath sein, aber er war unmusikalisch, egoistisch und launisch. Und jetzt noch diese Altersqual, den Namen des Geliebten nicht erinnern zu können! Er weiß doch, dass der Sohn Wotan heißt! Und an Jost erinnert er sich noch in jeder Einzelheit.
Das hat man davon, das bringt es einem, wenn man so alt wird und die Lieben einem wegsterben – eine beklemmende Leere in allen Zimmern, im ganzen Haus, im Garten. Die Namen, Worte und Laute verdämmern, verstummen. Allenfalls die eine oder andere Stunde, in der ich mich noch mit dem »Hotel Tirol« beschäftige, kann mich ablenken, neuerdings das telepathische Gehabe des egoistischen Dackels – und, bis vor einem Jahr, einmal in der Woche, die langen Nachmittage auf dem Berghof: Da konnte ich wenigstens mit seinem Sohn, mit Wotan, spielen. »Ja, unser lieber Papusch hat uns verlassen«, hatte er sich zum Abschied immer bei ihm beklagen können. Nur bei ihm.
Über seinen eigenen Vater hatte er nie etwas in Erfahrung bringen können. Schwanger war die Mutter aus dem »Dienst« in Wien in ihre Heimatstadt Mauthausen zurückgekehrt. Später quälte ihn der Argwohn, warum sie ihn ausgerechnet Siegmund genannt hatte – das klang doch ziemlich nach jüdischer Tarn-Assimilation! Sie hatte ihm nie verraten wollen, in welcher Familie sie in Wien gedient hatte, ob es der Kutscher, der Gärtner oder gar der Herr oder der Sohn des Hauses gewesen war. Als er sich gleich nach dem »Anschluss« bei der SS vorgestellt hatte, wies der Sturmbannführer ihn ab. »Siegmund?«, hatte der gedehnt gefragt und deutlich auf seine Nase gestarrt (an der es doch nichts auszusetzen gab). Tja, er konnte leider nur einen halben Stammbaum nachweisen: Die Rohrs tauchten bereits im 17. Jahrhundert im Mauthausener Kirchenbuch auf, aber was war mit der anderen Hälfte? »Haben sie etwas zu verbergen?«, fragte man ihn, einmal sogar, ohne Ergebnis, die Mutter. Immerhin, zum Kellner im Offizierskasino langte es, und später zum Obergefreiten an der Gulaschkanone hinter der Ostfront. Trotzdem fühlte er sich nach der ungeheuerlichen Tatsache des Zusammenbruchs zu einem tragischen Nachkriegsschicksal berechtigt, wie etwa das seines Freundes Jost, der, nur wegen seines Diensteifers im Lager, hatte untertauchen müssen. Zuerst also auch auf Tauchstation bei Mutti, um den rohen historischen Einschnitt zu verkraften. Er hielt sich arbeitslos, war zu stolz, um die sowjetischen Besatzer (»den Iwan«) zu bedienen. Dann aber, nach Muttis allzu frühem Tod, nahm er den bewährten Schleichweg der Kameraden über die Alpen, wurde von Südtiroler Schleusern für ein paar Schilling über die Brennergrenze nach Italien geführt – um dann in Sterzing alias Vipiteno von seinem späteren Freund Fritz Cirigliano an das argentinische Generalkonsulat in Genua weiterempfohlen zu werden.
Mit seinem Arbeitszeugnis aus der Moststube Frellerhof, Mauthausen, hatte Siegmund Rohr keine Schwierigkeiten, als Steward in der Offiziersmesse auf der North King anzuheuern, vormals ein Bananendampfer unter panamaischer Flagge. Der Frachter war erst zum US -Truppentransporter, später zum Auswandererschiff umgerüstet worden: Hunderte italienische, kroatische, slowenische, wolgadeutsche, litauische Emigranten, dazu bald darauf auch viele Spanier, alle gleich schmutzig und stinkend, schliefen in Hängematten in den Laderäumen, getrennt von Frau und Kind, für die man backbord nicht mehr benötigte Lazarett-Pritschen aufgestellt hatte. Ein paar letzte Getreue des Reiches, die womöglich mit der rachedurstigen Siegerjustiz rechnen mussten, hatten im Komfort der Offizierskabinen Logis gefunden. Der Kurs des mutierten Bananenfrachters: Barcelona, Rio de Janeiro, Montevideo, Buenos Aires. Es war November 1948.
In Barcelona dann die riesige Überraschung, diese bittere Erfahrung! Wer kam an Bord? Fritz Cirigliano, aber in Begleitung von Jost, der sich ihm förmlich als Herr Peter Schlosshauer vorstellte. Mein Jost!, in Zivil, wie ich ihn nur ganz selten gesehen habe, und der mich in meiner doch so schicken Stewarduniform abweisend, nicht erkennend musterte, die Freundschaft verleugnend. Dann aber glaubte
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