Scherbenherz - Roman
Wohnzimmer am nächsten Morgen, faltete seine Zeitung zusammen und beugte sich vor, um mit einem langen Schürhaken das Feuer im Kamin anzufachen.
»Archie, bitte!«, mahnte ihre Mutter, die wie immer etwas gegen die lockere Ausdrucksweise ihres Mannes einzuwenden hatte.
»Ich wollte damit nur sagen, dass ich ihn mag. Der Typ hat Pep. Hätte schlimmer kommen können.«
»Ich bin sicher, auf Annie können wir uns in diesem Punkt verlassen.« Ihre Mutter sah mit ihren dunkelgrauen Augen von ihrer Näharbeit auf. »Stimmt’s, Liebes?«
Anne lächelte. Ja, das konnten sie. Sie wusste, was sie wollte. Wie sie jedoch feststellen sollte, hatte sie nicht die geringste Ahnung, was er wollte.
Charlotte
C harlotte kam wieder einmal zu spät, und auch wenn ihrem ständigen Zuspätkommen der Ruf des Unvermeidlichen anhaftete, war dies im Augenblick kaum tröstlich. Eigentlich hätte sie es besser wissen und diese alte Schwäche bei ihrer Zeitplanung einkalkulieren müssen. Diese Gedanken schossen ihr durch den Kopf, während sie ihr kleines blaues Auto in halsbrecherischem Zickzack durch den dichten Londoner Verkehr lenkte. Leider war ihr der entscheidende Sprung vom Vorsatz zur Umsetzung in die Tat bisher nie gelungen. Das Zuspätkommen war eine Eigenschaft, eine Seite ihrer Persönlichkeit, die von fast allen, die sie kannte, freundschaftlich geduldet und resigniert belächelt wurde. Charlotte hatte Freunde, die bei Verabredungen mit ihr eine Verspätung von einer halben Stunde gleich einkalkulierten. Für ihre Mutter galt das nicht: Sie bestand auf Pünktlichkeit.
Charlotte stand die Begegnung mit Anne bevor. Kalte, klamme Angst lastete auf ihrer Brust. Seit Kurzem war sie sich bewusst, dass sie nicht einmal mehr so tun konnte, als sei sie in der Gegenwart ihrer Mutter entspannt. Sie gingen in letzter Zeit so verkrampft und gestelzt miteinander um, dass die Essenz ihrer Dialoge vorwiegend aus dem bestand, was unausgesprochen blieb.
Schuld daran war jener Tag vor einigen Monaten, als ihre Mutter am frühen Morgen unangemeldet vor ihrer Wohnungstür aufgekreuzt war. Es war Charlottes dreißigster Geburtstag gewesen, ein Datum, das sie zu ignorieren fest entschlossen gewesen war. Sie erinnerte sich, wie sie die Wohnungstür geöffnet hatte und unfähig gewesen war, ihr Entsetzen zu verbergen. Unwillkürlich war sie einen Schritt zurückgewichen, so als scheue sie vor ihrer Mutter zurück, als wolle sie vor ihr davonlaufen.
»Hast du was?«, fragte die Mutter.
»Nein, nichts!«, entgegnete Charlotte und die falsche Fröhlichkeit in der eigenen Stimme schmerzte in den Ohren.
»Gut. Ich wollte dich überraschen. Alles Gute zum Geburtstag!« Und noch immer auf der Schwelle stehend hatte sie ihr ein viereckiges, sorgfältig verpacktes Schächtelchen mit einer Geste überreicht, die unnatürlich und aufgesetzt wirkte.
»Danke.« Charlotte bat sie nicht herein. Sie war noch im Schlafanzug, und ihr Freund Gabriel lag in ihrem zerwühlten Bett. Sie verspürte aus einem unerfindlichen Grund den Drang, ihre Mutter so schnell wie möglich loszuwerden. Hastig riss sie daher das Päckchen auf. Es enthielt ein glattes dunkelblaues Etui mit goldenem Verschluss. Charlotte öffnete es, und ihr Blick fiel auf einen allzu vertrauten Ring mit einem Rubin in einem Kreis von Brillanten.
»Mum …«
»Ich möchte, dass du ihn trägst.«
»Aber Mum!« Charlotte war flau in der Magengegend. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. »Was soll das?«
Ihre Mutter räusperte sich. »Er passt mir nicht mehr.« Sie lächelte undurchsichtig. »Außerdem, wem sonst sollte ich ihn schenken?«
»Es ist dein Verlobungsring.«
»Ja und?« Damit hatte sich ihre Mutter abgewandt und war ohne ein weiteres Wort aus der Haustür gegangen. Charlotte hatte keine Chance mehr gehabt, ihr zu sagen, dass sie den Ring nicht haben wollte.
Charlotte trat an einer Ampel abrupt auf die Bremse, und ihre Handtasche rutschte vom Beifahrersitz. Der Inhalt, eine Mischung aus Haarklammern, alten Briefmarken und anderem Krimskrams, ergoss sich in den Fußraum. Ein Armband mit gebrochenem Verschluss, das sie seit Monaten in der Handtasche mit sich herumtrug, hatte sich in seine Einzelteile zerlegt, und einige winzige purpurne Perlen rollten nun über die ausgefranste graue Fußmatte. »Schei …!«, entfuhr es ihr laut, aber es war niemand da, der sie hätte hören können. Sie bückte sich, um alle Gegenstände einzusammeln, als die Ampel auf Grün schaltete und der alles
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