Scherbenherz - Roman
Linoleum unter den Schuhsohlen, die langen fensterlosen Korridore, die hinfälligen alten Frauen, die in Schlappen zur Toilette schlurften, die aufgesetzte Fröhlichkeit der Krankenschwestern, die alles nur noch schlimmer machte.
»Tief durchatmen«, ermahnte sie sich. »Du bist schließlich nicht krank.« Damit griff sie nach ihrer abgewetzten Handtasche, schlang sie über den Arm und ging hinein. Die Glastüren öffneten sich automatisch mit einem Zischen und gaben den Weg in den Eingangsbereich frei. Auf der einen Seite befand sich eine Art Geschenkartikelladen. Zum Sortiment gehörten Zeitungen (der Daily Express war bereits ausverkauft, wie sie bemerkte) und traurig dreinblickende Teddybären mit verblichenen purpurroten Schleifen um die Hälse. Als sie auf den Liftknopf drückte, ertönte ein Glockenton. Kurz darauf war sie im fünften Stock. Sie ging bis zum Ende des Korridors, blieb kurz stehen, um einen Tropfen Desinfektionsmittel aus dem Spender an der Wand auf ihre Handflächen zu drücken, und stieß die Tür zu ihrer Rechten auf. Sie klappte lautlos auf.
»Hallo, Mum.«
Ihre Mutter stand vor dem Fenster und blickte in das verwaschene Grau des Himmels. Sie wandte sich abrupt um, als Charlotte eintrat. »Oh, hallo«, antwortete sie automatisch so, als habe sie mit ihrer Tochter gar nicht gerechnet.
»Wie geht es ihm?«
»Immer gleich«, erwiderte die Mutter, die Augen hinter der Bifokalbrille mit dem pastellfarbenem Gestell verborgen, die sie zum Lesen aufsetzte. »Der Arzt meint, wir sollten versuchen, mit ihm zu sprechen.«
Charlotte betrachtete das faltige Gesicht ihres Vaters, der eingesunken und bleich in seinem Krankenhausbett lag. Sie fühlte, wie eine Woge der Traurigkeit sie erfasste. Das Licht im Raum schien an den Rändern auszubleichen, jede Farbe aus dem Raum zu ziehen, so dass alles in mattem Grau erschien.
Es war an der Zeit, in die Rolle zu schlüpfen, die man von ihr erwartete. Sie straffte die Schultern und lächelte betont strahlend.
Am Fußende des Bettes hing ein Körbchen aus dünnem Draht mit dem billigen blauen Ringhefter, der seine Krankengeschichte enthielt. Über dem Kopfende hing ein abwischbares Schreibbrett, auf das eine Schwester mit fahriger Schrift »Charles Redfern. Alter: 55« notiert hatte.
»Hallo, Dad.«
Anne
A nne liebte ihre Tochter. So sehr, dass es schmerzte wie ein Glassplitter, der in ihrem Herzen steckte. Allerdings brachte sie es nie über sich, ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Ein Umstand, der die beiden mehr als alles andere auseinanderzutreiben schien.
Charlottes Zuspätkommen machte sie unsagbar wütend. Sie hatte versprochen, pünktlich um halb sieben Uhr abends im Krankenhaus zu sein. Mittlerweile war es Viertel nach sieben. Während des Wartens hatte sich Anne in einen Zustand hineingesteigert, den man als kompliziertes Gemisch aus Wut und Angst bezeichnen konnte. Sie befürchtete, dass Charlotte womöglich gar nicht käme, sie nicht genug liebte, um sich hierher zu bemühen. Dieser Gemütszustand hatte sich so schleichend in Anne aufgebaut, dass sie unfähig war, ihren Ärger zu verbergen, den kalten Blick und die hochgezogenen Augenbrauen.
Ihr war klar, dass Charlotte ihre Verfassung intuitiv erfasste, ihre Tochter die gespannte Atmosphäre spürte, kaum dass sie das Zimmer betreten hatte.
»Wie war der Verkehr?«, fragte Anne. Sie versuchte, Heiterkeit in ihre Stimme zu legen, hörte aber dennoch, wie spröde und heiser ihre Worte klangen.
»Schrecklich wie immer. Das übliche Chaos. Feierabendverkehr«, antwortete Charlotte unbestimmt.
»London wird immer schlimmer«, bemerkte Anne, der nichts anderes einfallen wollte. Sie hüstelte trocken. »Wann konntest du dich loseisen? Im Büro, meine ich.«
Charlotte verzog keine Miene, doch Anne sah sofort, wie ihre Halssehnen gestresst hervortraten. Als sie antwortete, klang ihre Stimme gereizt.
»Normal. Gegen 18 Uhr.« Charlotte stellte ihre Handtasche auf den Fußboden und schälte sich aus ihrer Jacke. Sie seufzte so laut, dass Anne es hören musste. »Ich wollte nicht zu spät kommen. War keine Absicht.«
Anne schwieg. Sie hasste es, wenn Charlotte gereizt reagierte. Natürlich wollte sie, dass Charlotte ihren gerechten Zorn merkte, aber nur, um ihr die ersehnte liebevolle Entschuldigung zu entlocken.
»Na schön«, hörte Anne sich sagen. »Jetzt bist du ja da.«
Die Atmosphäre im Raum knisterte.
Charlotte schüttelte unmerklich den Kopf. Keiner außer Anne hätte es
Weitere Kostenlose Bücher