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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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Häuser hinein, doch überall waren die Fensterläden geschlossen oder die Jalousien heruntergelassen. In meiner Verzweiflung drückte ich mit beiden Händen auf die mannshohen Klingelschilder der Wolkenkratzer. Niemand öffnete mir. Die Sprechanlagen blieben still.
    Schon wurden meine Schritte schwerfälliger und mein Puls träger. Sie waren hinter mir her. Sie lauerten. Ich konnte ihre Blicke spüren, ihren gierigen Atem. Ich roch die Fäulnis. Ratten krabbelten aus den Kanaldeckeln, krochen unter meine Hosenbeine und krallten sich an meiner nackten Haut fest, als ich in eine Gasse wankte und endlich eine offene Tür fand. Keuchend schlüpfte ich hindurch und quälte mich die schmale Stiege zum einzigen Zimmer hinauf, das dieses Haus hatte. Ein großes, breites Bett stand in der Ecke, bedeckt mit einem samtenen Überwurf, erleuchtet nur von einer flackernden Stumpenkerze. Auf allen vieren schleppte ich mich dem Bett entgegen, legte meine Hand auf die Matratze und drückte meine Finger in das dünne Laken, um mich hochzuzerren. Ich schaffte es nicht. Ich war zu schwach. Doch dann griff jemand sanft nach meinen Schultern und zog mich an sich.
    »Grischa«, murmelte ich müde. »Du bist es.«
    Ja, er war es. Er würde mich heute Nacht in seinem Arm halten. Bei ihm war ich sicher. Ich schlang meine Hände um seinen warmen Hals und presste mein Ohr an seine Brust, um dem Schlagen seines Herzens zu lauschen. Es pochte kraftvoll und gleichmäßig. Grischa versuchte, meine Arme von seinem Hals zu lösen, doch das konnte ich nicht zulassen. Es würde mein Tod sein. Ich verhakte meine Finger fest ineinander und konzentrierte mich nur auf sein Herz ... Wenn es schlug, lebten wir ...
    »Ellie. Wach jetzt mal auf. Ich krieg kaum noch Luft. Hallo! Ellie!«
    Ich fuhr so ruckartig hoch, dass meine Stirn gegen Tillmanns Kinn prallte. Mit einem metallischen Klacken krachten seine Zähne aufeinander. Blitzschnell rollte ich mich zur Seite und rechnete damit, auf den Boden zu fallen, aber das war mir recht, solange ich mich nicht weiterhin wie eine läufige Hündin an ihn klammerte. Doch ich fiel nicht. Tillmanns Bett hatte über Nacht offenbar seine Breite verdoppelt. Oder lagen wir etwa wieder in Pauls Zimmer?
    Verwirrt sah ich mich um. Nein, wir waren in unserem Zimmer und alles sah so aus wie immer - mit dem kleinen Unterschied, dass unsere beiden Betten nun dicht nebeneinanderstanden.
    »Eine Sicherheitsmaßnahme«, erklärte Tillmann und massierte sich seinen lädierten Kiefer. »Du hast so unruhig gepennt. Ich glaube, du solltest langsam mal deine Sache mit Colin klären.«
    Ich errötete heftig. »Ich hab eben nicht von Colin geträumt.«
    »Nein?« Tillmann schmunzelte belustigt. »Also doch von mir?«
    »Nein! Von ... Spielt keine Rolle.« Oh, das tat es sehr wohl. Denn es war bereits das zweite Mal, dass ich von Grischa geträumt hatte und bei einem anderen Mann im Arm aufwachte. Und leider war es dieses Mal Tillmann gewesen und nicht Colin. Warum zum Teufel träumte ich überhaupt von Grischa? Ich fuhr mir mit allen Fingern durch die Haare, um die Traumbilder zu vertreiben.
    »Entschuldige bitte«, sagte ich steif. »Ich wollte dir nicht zu nahe treten.« Dann sah ich, dass Tillmann die Kamera in der rechten Hand hielt, und bekam den nächsten Schreck. »Paul! Ich muss nach Paul gucken ...«
    »Hab schon nachgeschaut. Alles okay. Er schnarcht friedlich vor sich hin.«
    Mit einem Seufzer der Erleichterung ließ ich mich zurück in die Federn fallen. Noch immer hallte Tillmanns tiefer, gleichmäßiger Herzschlag in meinen Ohren nach und ich fühlte einen schwachen Abglanz seiner Körperwärme auf meiner linken Wange.
    »Wir sollten die Aufnahmen prüfen, solange er schläft.« Tillmann wackelte mit der Kamera. »Wir brauchen dazu Pauls Laptop.«
    Ich musste sowieso aufs Klo. Und ich benötigte dringend ein paar Minuten für mich alleine. Beinahe hatte ich das Gefühl, Colin betrogen zu haben - und das gleich doppelt. Mit Grischa im Traum und mit Tillmann in der Realität. Auf beides hatte ich nur wenig Einfluss gehabt, aber das machte es kaum besser. In dem Moment hatte es mich nicht einmal Überwindung gekostet. Ich hatte die Nähe sogar gesucht.
    Tillmanns Aufforderung, »die Sache« mit Colin zu klären, war vielleicht gar nicht so verkehrt. Wer wusste schon, was ich in den nächsten Nächten mit Tillmann anstellen würde, wenn ich von Colin (oder Grischa?) träumte oder mich vor angreifenden Mahren in Sicherheit bringen

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