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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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verbergen.
    »Aber sie kommt?«, hakte er nach.
    »Ich hoffe es«, sagte ich, obwohl ich mir dessen nicht mehr sicher war. Ich an ihrer Stelle wäre wahrscheinlich zu Hause geblieben.
    »Wie ist sie denn so?« Tillmann lehnte sich auf seinem schmalen Bett an die Wand und bedeutete mir damit, dass soeben unsere abendliche Gesprächstherapie begonnen hatte. Anders konnte man das kaum bezeichnen. Ich saß den lieben langen Tag alleine rum, und sobald die Jungs heimkamen, zerbrachen Tillmann und ich uns die rauchenden Köpfe und versuchten uns gegenseitig davon zu überzeugen, dass wir alles richtig machten und diese Nacht überleben würden.
    »Nichts für dich«, erwiderte ich im Brustton der Überzeugung.
    Tillmann sollte gar nicht erst auf die Idee kommen, sich an Gianna ranzumachen. »Zu alt. Bestimmt Mitte zwanzig.«
    Tillmann zuckte lässig mit den Achseln. »Meine erste war fünf Jahre älter. Na und?«
    »Du lässt die Finger von ihr, sonst kannst du nach Hause fahren, verstanden?« Ich funkelte ihn so drohend an, wie ich nur konnte.
    Tillmann zeigte sich wie immer unbeeindruckt. »Beschreib sie mal in ein paar Worten. Wie wirkt sie auf dich?«
    »Hmmm ... eine frustrierte Mittzwanzigerin mit Helferkomplex und Haltungsschäden.«
    »Klingt nicht nach einer toughen Journalistin. Ist sie denn wenigstens hübsch?«
    »Ja, ist sie, wenn man auf ihren Typ Frau steht«, gab ich grantig zurück. »Mich interessiert ihre Vertrauenswürdigkeit und nicht ihre Körbchengröße. Ich frag mich immer noch, warum Papa sie für eine ideale Verbündete hält. Er muss sich doch etwas dabei gedacht haben.«
    »Du, Ellie ...« Tillmanns Ton wurde ernst und sein Grinsen erlosch. »Hast du eigentlich mal darüber nachgedacht, dass dein Vater tot sein könnte?«
    Das Wort »tot« traf mich wie ein Peitschenhieb. Meine Füße zuckten, weil ich aufstehen und weglaufen wollte. Nur Tillmanns brennender Blick hielt mich. Ich hasste ihn für sein katastrophales Taktgefühl und seine Unverblümtheit, doch ich blieb.
    »Natürlich hab ich das!«, rief ich erzürnt. »Was glaubst du denn? Dass ich unter Realitätsverlust leide? Tag und Nacht denke ich an nichts anderes, falls ich nicht gerade damit beschäftigt bin, die Seele meines Bruders zu retten oder mich nach Colin zu sehnen, was nicht funktioniert, weil ich ... ach, das verstehst du alles nicht!«
    Tillmann schwieg, sah mich jedoch weiterhin mit einer beinahe unbarmherzigen Neugierde an.
    »Ich träume fast jede Nacht von ihm - dass Mama und ich ihn zurückholen konnten, doch er ist so müde, so unendlich müde. Er macht das nur uns zuliebe. Er will eigentlich gar nicht da sein, aber wir lassen ihn nicht gehen, weil wir es nicht aushalten würden, ihn ein zweites Mal zu verlieren.« Meine Worte klangen so endgültig, dass mein Herz zu schmerzen begann. Wieder schob sich der dicke Kloß in meine Kehle, den ich schon beim Treffen mit Gianna nur mit Gewalt hatte hinunterschlucken können.
    »Ich glaube es erst, wenn ich einen Beweis dafür habe, dass er nicht mehr da ist. Erst dann! Noch ist alles möglich. Und jetzt hör auf, mich so anzugucken, ich weiß selbst, dass ich schuld an dem ganzen Schlamassel bin! Ich hab ihn auf dem Gewissen!«
    Ich drehte mich um und drückte mein Gesicht ins Kissen, damit Tillmann meine Tränen nicht sah. Bei Colin fühlte ich mich nie hässlich, wenn ich weinte. Bei Tillmann schon. Ich wollte in seiner Gegenwart keine einzige Träne zeigen. Ich war mir sicher, dass er sie nicht mochte. Er würde aufstehen und gehen. Als ich damals nach der Begegnung mit Tessa neben ihm geheult hatte, war das etwas anderes gewesen. Wir standen beide unter Schock. Wahrscheinlich hatte er es nicht einmal bemerkt. Aber Jungs mochten keine heulenden Mädchen, das war ein uraltes Gesetz.
    Und genau so war es. Ich hörte die Federn seines Bettes quietschen, dann entfernten sich seine Schritte. Es überraschte mich nicht und trotzdem machte es mich so zornig, dass ich mit voller Wucht gegen die Wand trat.
    »Ich werd hier noch verrückt«, schluchzte ich und boxte in mein Kissen. Ich fühlte mich eingesperrt, umzingelt von Wasser und Nebel und Ratten und in ständiger Angst vor dem Mahr, der Paul heute Nacht wahrscheinlich erneut heimsuchen würde, und wir konnten nichts dagegen tun, gar nichts ... Diese Wohnung war ein Gefängnis. Ich sehnte mich nach dem Wald und Colins Haus, diesem Frieden, den ich dort immer verspürt hatte. Bis Tessa aufgetaucht war. Sie hatte alles

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