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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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einsamen Nachmittage in dieser Wohnung hatte ich sie nach und nach durchgehört und sogar einige Moby-Stücke gefunden, die ich noch nicht kannte. Ich fing an, diese Musik zu mögen, obwohl ich nun wusste, warum Paul sie brauchte. Sie half ihm, sich von seinen nächtlichen Kämpfen zu erholen.
    Wir tranken unseren Kaffee, lauschten den sanften, schmeichelnden Klängen und sagten minutenlang kein Wort. Ich hätte bis in alle Ewigkeit mit Paul hier sitzen können, meine Füße warm unter der Decke verpackt, meinen Kopf an seine Schulter gelehnt. In diesen hellen Morgenstunden konnte ich den Gedanken an das verdrängen, was in diesem Zimmer beinahe jede Nacht geschah. Der Mahr ruhte sich aus und wir konnten Luft holen und uns wappnen.
    »Du ...«, begann ich mit träger Zunge. »Ich hab da jemanden kennengelernt, ein Mädchen, und ich hab sie eingeladen. Hierher.«
    »Du hast jemanden kennengelernt? Wo denn?«, fragte Paul interessiert.
    »In der Kunsthalle. Wir sind zufällig ins Gespräch gekommen.« Oh, war das schön, nicht zu lügen. Ich sollte es genießen, bevor es vorbei war. Ich hielt kurz inne und sah Paul an. Hab ich dir eigentlich schon gesagt, dass ich dich liebe?, dachte ich. »Sie heißt Gianna. Sie kommt am Samstag. Und ich - ich würde mich freuen, wenn du auch da bist.«
    Paul lächelte. »Klar. Warum nicht? Ich hab nichts anderes vor und François ist sowieso den ganzen Tag in Berlin, weil ...«
    »Oh, super. Versteh das nicht falsch, Paul, aber François ist manchmal ziemlich anstrengend und ich glaube, er mag keine Frauen.«
    Paul schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, da irrst du dich, Ellie. François hat nichts gegen Frauen. Er kann sehr charmant sein, wenn er will.«
    »Tja. Bei mir will er wohl nicht.«
    »Keine Bange. Wie gesagt, er ist in Berlin und kommt erst spätabends zurück. Zu den Vertragsverhandlungen fährt er jedes Mal alleine. Ich kann machen, was ich will, er nimmt mich nicht mit. Er sagt, ich wäre zu grob gestrickt und würde die Leute vergraulen.«
    »Du?« Ich lachte kurz auf. Paul war stets ein Menschenmagnet gewesen. Er konnte sowohl Männer als auch Frauen binnen Minuten mit einem Witz oder einer Bemerkung aus der Reserve locken. Er verstand sich ja sogar mit Tillmann. Gut, seine Witze waren nicht immer stilsicher. Trotzdem war er definitiv sympathischer als François.
    »Wir haben kaum miteinander geredet in den letzten Tagen, Schwesterchen. Wie geht es denn mit der Therapie voran?«
    Oh ja. Meine angebliche Therapie bei Dr. Sand. Himmel, die hatte ich vollkommen vergessen. Nun musste ich mich in Lügen stürzen.
    »Ganz gut, denke ich. Ich fühl mich ein bisschen besser.«
    »Ja, das sehe ich. Du hast zugenommen, oder? Bist nicht mehr so mager. Hat er eigentlich schon eine eindeutige Diagnose gestellt?«
    Eine Diagnose. Auch das noch. Jetzt war mein Improvisationstalent gefragt.
    »Ähm ... ja, hat er wohl, doch er meinte, es sei momentan zu früh, um mich damit zu konfrontieren. Er will warten, bis ich stabiler bin.«
    »Das spricht für ihn. Sehr gut«, entgegnete Paul anerkennend und strich mir fürsorglich über den Rücken. Ich wich nicht aus. »Sagt er denn, dass du studieren kannst? Hast du dich mal an der Uni umgesehen?«
    Gutes Stichwort. Studium. Daraus ließ sich etwas machen.
    »Na ja. Ich würde gerne Biologie, Medizin oder Biochemie studieren. Aber ich hab Angst, nach ein paar Semestern zu merken, dass es nicht das Richtige für mich ist. Woran hast du das eigentlich gemerkt? Ich meine, es hat bestimmt einen Grund gegeben, weshalb du dich für die Kunst entschieden hast, oder? Außer der Sache mit dem Geld?«
    Pauls Gesicht verdunkelte sich. Er hustete und griff sich an die Brust. Sein Atem ging schwerer.
    »Ich konnte es auf einmal nicht mehr. Ich hab im Krankenhaus als Pfleger gearbeitet und plötzlich hab ich mich dauernd bei den Patienten angesteckt, mit jedem Mist. Ich war nur noch krank. Und ... ich hab mich von einem Tag auf den anderen vor allem und nichts geekelt. Wenn ich die Patienten gewaschen habe, wurde mir fast schlecht, ich hab es nicht geschafft, Windeln zu wechseln oder Erbrochenes aufzuwischen. Ich weiß nicht, warum das passiert ist. Aber es ging nicht wieder weg. Inzwischen ekle ich mich sogar vor Rasierschaum und Duschgel. Das ist so glibberig. Ich will es immer ganz schnell wieder vom Körper kriegen.«
    Paul brach ab. Ich versuchte zu verstehen, was er mir gesagt hatte. Ekel? Paul ekelte sich? Alles, was ich früher eklig gefunden

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