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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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die Unterlippe. Er war sich ebenso wenig sicher, wie ich es war. Colin hatte einen außerordentlich feinen Instinkt. Er hätte es sofort bemerkt, wenn eine Kamera lief - nein, wenn sie mit dem Zweck lief, ihn festzuhalten. Auf der anderen Seite befanden sich heutzutage fast überall irgendwelche Kameras. Und über Google Earth konnte man beinahe jedes Haus ausspionieren. Davon ließen sich die Mahre schließlich auch nicht vom Jagen abhalten.
    Ich schaute auf meine Armbanduhr. Es war kurz vor Mitternacht.
    »Geisterstunde ...«, sagte ich halblaut. Wir lauschten gebannt. Die Klospülung rauschte, ein sehr vertrautes Geräusch, doch viel lauter hörte ich das Pochen meines Herzens in meinem Kopf. Nun klappte die Badezimmertür. Paul ging also gerade ins Bett.
    Tillmann stand auf, trat zu mir, warf einen prüfenden Kontrollblick durch das Objektiv und drückte den Startknopf.
    »Kamera läuft.«
    Ich suchte seinen Blick. Es konnte sein, dass er der letzte Mensch war, den ich ansah. Tillmanns mandelförmige Augen begegneten mir ruhig, aber wie immer sehr aufmerksam. Wie hatte Colin gesagt? Ihm entgeht nichts. Und genau darin lag mein Vorteil. Meine Handflächen schienen zu flimmern. Sie wollten menschliche Haut berühren. Sich vergewissern, dass sie Leben spüren konnten.
    Ich widerstand meinem Bedürfnis, ihm über die sommersprossige Wange zu streichen, wandte mich ab und legte mich stocksteif ins Bett. Die Decke zog ich bis hoch an mein Kinn, wie in Kindertagen, wenn ich mich vor Spinnen und Hexen gefürchtet hatte. Der weiche Stoff auf meinem Körper hatte mir das Gefühl vermittelt, alles Böse von mir abzuhalten. Er war meine Schutzhülle gewesen. Aber jetzt funktionierte das nicht mehr.
    Tillmann setzte sich im Schneidersitz gegenüber an die Wand, die Decke um seine Schultern gewickelt. Wie damals im Wald vor seinem Schwitzzelt.
    »Schlaf ruhig ein bisschen«, sagte er. »Ich versuche, wach zu bleiben, solange es geht.«
    Und obwohl ich das Grauen nahen ahnte und die ersten Fäulnisschwaden durch die geschlossenen Fenster drangen, um jede einzelne meiner Körperzellen in Panik zu versetzen, verlor mein Bewusstsein binnen Minuten seinen aussichtslosen Kampf gegen die Finsternis.

Nahaufnahmen
    Ich näherte mich von oben, aus sicherer Entfernung. Ich wollte ihn nur beobachten. Es war schön, das zu tun. Mehr brauchte ich nicht. Ich ließ mich noch ein paar Meter nach unten sacken. Jetzt roch ich das Salz der Gischt und hörte die Brandung, aber sie konnte mir nichts anhaben. Ich war nicht ihretwegen hier. Ich war seinetwegen gekommen.
    Ich wollte seine Bewegungen für immer in meinem Gedächtnis verankern. Der zerschlissene, dünne Stoff seines Kimonos flatterte im Wind, als er zum Sprung ansetzte, sich geschmeidig drehte, seinen Oberkörper wendete und die Faust nach vorne stieß. Die Wellen umspülten wirbelnd seine Knöchel, doch sie brachten ihn nicht eine Sekunde zum Straucheln. Vollkommenes Gleichgewicht.
    Seine Gegner blieben unsichtbar, seine Lider gesenkt. Er war ganz bei sich. Er bemerkte mich nicht, obwohl ich ihn unverwandt anschaute und nicht ein einziges Mal blinzelte, um keinen Augenblick zu versäumen. Jeder Sekundenbruchteil war wertvoll. Ich liebte, was ich sah. Ich liebte es so sehr, dass mich nicht einmal der Schatten vertreiben konnte, der sich grollend über mir erhob. Ich drehte mich nicht um. Er sollte mich begraben, zusammen mit ihm. Und so lächelte ich, als das Wasser über mir zusammenbrach und mich nach unten drückte, tief hinab in die kalte schwarze Leere des Ozeans.
    Dann ließ der Druck nach und die Finsternis lichtete sich. Ich war
    nicht mehr am Meer. Ich war in einer Wohnung, die ich nicht kannte, aber es war meine Wohnung. Es war meine erste Nacht hier. Ich schaute hinaus. Ich befand mich mitten in einer riesigen Stadt - so riesig, dass ich ihre Grenzen nicht erahnen konnte. Vor mir ragte ein schwindelerregend hohes Haus neben dem anderen in den dunstigen Nachthimmel, dazwischen liefen schnurgerade, schmale Straßen. Kein einziger Baum weit und breit. Hinter den Fenstern brannte kein Licht. Kein Auto war unterwegs. All die Menschen da draußen schliefen. Oder sie waren bereits tot.
    Ich wusste genau, was ich zu tun hatte. Ich musste jemanden finden, der sich dicht zu mir legte. Denn wenn ich alleine blieb, würde ich diese Nacht nicht überleben.
    Hals über Kopf flüchtete ich aus meiner Wohnung und durchstreifte die menschenleeren Straßen, sah durch Schaufenster und in die

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