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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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hatte, hatte Pauls Augen leuchten lassen. Er hatte in den Ferien aus Wasser, Mehl, Ei und Kakao Scheiße nachgebastelt und sie mit Hingabe auf sämtlichen Klobrillen und Omas Gartenwegen verteilt. Er hatte mit Schneckenschleim experimentiert und mit den Maden aus der Biotonne Wettrennen auf dem Wohnzimmertisch veranstaltet (an diesem Nachmittag wurde selbst Mama hysterisch). Wann immer jemand blutete, war Paul zur Stelle. Einmal hatte er das Blut, das aus meiner Kniewunde tropfte, abgeleckt, weil er wissen wollte, wie es schmeckte.
    Doch er hatte mich eben nicht belogen. Das wusste ich genau. Paul hatte eine vollkommene Wesensänderung durchgemacht und der Mahr musste daran schuld sein. Es war die einzige Erklärung, die mir in den Sinn kam. Denn das passte auch zu seiner schwachen Immunabwehr. Normalerweise bekamen Pflegekräfte im Krankenhaus mit der Zeit ein stabileres Immunsystem. Bei Paul aber war es genau umgekehrt gewesen. Wie hatte Colin gesagt? Mahre konnten die Abwehrkräfte der Menschen beeinträchtigen.
    »Wie lange liegt das zurück?«, fragte ich im lockeren Konversationston, obwohl mir so übel geworden war, dass ich den Kaffeeduft kaum noch riechen konnte und meine Tasse beiseitestellte.
    »Ich hab vor zwei Jahren aufgehört, im Krankenhaus zu jobben. Und vor anderthalb Jahren hab ich das Studium geschmissen. Es machte ja keinen Sinn mehr. In die Forschung will ich nicht gehen. Das ist nichts für mich.« Damit hatte er ausnahmsweise recht. Paul musste mit seinen Händen arbeiten.
    Vor zwei Jahren ... Das bedeutete, dass er schon mindestens zwei Jahre lang befallen wurde. Für einen Moment hatte ich das Gefühl, das Bett unter uns würde zur Seite driften. Wie hatte er das nur durchhalten können? Mit einem Mal wurde mir bewusst, wie stark Paul war. Stark und zäh. Er hatte keine Ahnung, was mit ihm passierte, spürte täglich, dass er schlaffer und kraftloser wurde und ihm die Energie für die normalsten Dinge fehlte, er war depressiv und schwermütig. Und trotzdem kämpfte er sich jeden Morgen aus dem Bett, das eines Nachts sein Grab werden sollte, und zelebrierte sein Frühstück, als habe er noch alle Eisen im Feuer. Er fing jeden Morgen neu an zu leben. Dass er sich für schwul hielt, war für mich plötzlich nebensächlich geworden.
    Nun hustete er wieder und ich konnte deutlich hören, dass seine Lungen flatterten.
    »Mann, ich bin so fertig ... Ich möchte mal wissen, woher das kommt. Aber die Ärzte finden ja nichts.«
    »Vielleicht geht es von alleine weg. Du musst nur noch ein bisschen Geduld haben. Dann ist der Frühling da und alles wird besser.« Meine Stimme zitterte, doch ich wich Pauls fragendem Blick aus. Gut, dass ich Tillmann die Kreditkarte gegeben hatte. Hoffentlich war er schon unterwegs und hoffentlich baute er keinen Unfall. Ich brauchte ihn jetzt mehr denn je. Uns durfte kein Fehler unterlaufen. Ich schluckte meine Panik hinunter und stand auf.
    »Okay. Morgen Abend um sechs, ich werde was kochen.«
    Ich zog mich eilig in die Küche zurück, bevor Paul meine Angst bemerken konnte.
    Zwei Jahre. Warum so lange? Warum hatte der Mahr sich regelrecht an ihm festgebissen? Das war nicht typisch. Laut Papa und Colin arbeiteten Mahre effektiv. Sie saugten, was sie kriegen konnten, bis die Träume ihre Nahrhaftigkeit verloren. Dann ließen sie von ihrem Opfer ab. War es möglich, dass er von mehreren Mahren nacheinander befallen worden war? Und hatte es mit Papas Machenschaften zu tun? War es doch eine Art Mahrrache dafür, dass ein Halbblut sich in ihre Angelegenheiten eingemischt hatte?
    Es gab nur ein Wesen, dem ich all diese Fragen stellen konnte. Colin. Ich hörte die Brandung in meinem Kopf rauschen, als ich zum ersten Mal seit dieser unseligen Nacht den Namen der Insel aussprach, auf der es geschehen war.
    »Trischen.« Ich hasste dieses Wort. Es war mein persönlicher Horror, wie der Drache Katla für die Gebrüder Löwenherz. Aber sie hatten sich Katla gestellt.
    Und doch blieb ich am Küchentisch sitzen, starrte auf meine blassen Hände, die tatenlos vor mir lagen, und wartete, bis Paul zu mir kam, die Musik anstellte, aus unerklärlichen Quellen Kraft tankte und das Wasser - unser beider Verderben - sich schillernd in seinen blauen Augen spiegelte.

Sonnentänzer
    »Na endlich, da bist du ja!«, rief ich vorwurfsvoller als beabsichtigt, als Tillmann gegen zehn Uhr abends ins Zimmer gestürzt kam, in beiden Händen zwei große Coffee-to-go-Pappbecher und über der Schulter

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