Scherbenmond
viel. Deshalb das hier.« Er reichte mir den MP3-Player und forderte mich mit einer knappen Geste auf, die Stöpsel in die Ohren zu drücken. Ich schaltete auf Play und spielte den ersten Song an. Ich kannte diese Art von Musik nicht.
Ich wollte sie aber auch gar nicht kennenlernen. Harte, schnelle Beats - zu schnell und zu hart. Fast wie Techno. Ich schaltete wieder aus und sah Tillmann zweifelnd an.
»So voreilig bildest du dir also eine Meinung, Ellie. Nach zwanzig Sekunden.«
»Kann ich nicht was anderes hören?«
»Etwa dein Moby-Gejammer? Dabei pennt man doch ein! Außerdem kann man dazu nicht gut tanzen.«
»Ich soll tanzen?«
»Wir beide. Jeder für sich. Wir können die Musik ja schlecht laut stellen, wenn Paul einschlafen soll.« Tillmann trank seinen Espresso und seine harten, zackigen Bewegungen verrieten mir, dass ich ihn nervte.
»Aber muss es unbedingt Techno sein?«, meckerte ich.
»Das ist kein Techno. Das ist Ethno Dance. Gesänge von Indianern und Aborigines mit Trance abgemischt. Hab die CD bei deinem Bruder gefunden, die ist genau richtig. Mensch, Ellie, guck nicht so! Ich hab´s halt nicht geschafft, auf die Schnelle einen Schamanen mit Trömmelchen einfliegen zu lassen!«
»Ist ja gut«, murrte ich. »Ich kann aber nicht tanzen. Nicht einfach so.«
Tillmann ließ sich aufseufzend auf das Bett fallen. Angestrengt rieb er sich über seine Oberschenkel.
»Du kannst wohl tanzen. Ich hab es damals auf der Achtzigerjahre-Party im Chic gesehen. Falls du Hemmungen hast, kann ich dich beruhigen. Ich werde dich nicht angucken. Ich lasse meine Augen geschlossen und du solltest das auch tun. Hör einfach nur auf die Beats und auf die Klänge. Denk an nichts anderes mehr. Und beweg dich dazu. Wer tanzt, schläft nicht.« Tillmann richtete sich wieder auf. »Du hast nicht viel Ahnung von Musik, oder?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Muss ich das?«
»Nein, aber ... Techno ist im Grunde nix anderes als das, was die Urvölker machen, wenn sie sich in Trance tanzen. Gleichmäßige Schläge im Herzrhythmus. Jeder Powwow funktioniert so.«
Na, immerhin wusste ich, was ein Powwow war.
Tillmann zog sich seinen Pulli und sein T-Shirt über den Kopf. Dabei war es im Zimmer bereits unangenehm kalt. Er wollte es also wirklich wissen.
»Muss ich das jetzt auch machen?«, fragte ich spitz, doch Tillmanns nackte Brust ließ mich stocken. Ich vergaß meine Verlegenheit und beugte mich vor, um ihn genauer zu betrachten. Oberhalb seiner Brustwarzen befanden sich zwei schlecht verheilte, wulstige Narben. Sie sahen aus, als hätte er sich seine Haut in Fetzen gerissen.
»Was ist das?« Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass diese Narben im Sommer schon da gewesen waren. Ich hatte zwar bei Gott andere Sorgen gehabt, als Tillmann sich das T-Shirt vom Leib gezerrt hatte und Tessa entgegengegangen war, doch diese Narben wären mir aufgefallen. Sie waren neu. Ihre Wundränder leuchteten rötlich, beinahe entzündet. Tillmann tat so, als habe er meine Frage überhört, und leerte mit gesenkten Lidern seinen Espresso.
»Hey! Bitte sag mir, was das ist! Wobei ist es passiert? Kamen sie von alleine? Hat es mit ihr zu tun?«
»Nein!«, unterbrach Tillmann mich scharf. »Sie stammen von mir.«
»Von dir? Aber wie ...?« Ich hob verwirrt meine Hände.
»Schon mal was vom Sonnentanz gehört? Nein?« Tillmann atmete tief durch und mit einem Mal kapierte ich, dass ich etwas sehr Privates angesprochen hatte. Er wandte sich von mir ab, als er antwortete. »Man befestigt dünne Zweige unter der Haut, bindet sie mit Schnüren an einem Pfahl fest und tanzt um diesen Pfahl herum, bis man den Mut gefunden hat, die Zweige loszureißen. Bei den
Lakota dauert das manchmal Tage. Ich hab einen Nachmittag und eine Nacht gebraucht.«
»Du hast dir Äste unter die Haut gebohrt? Ist dir eigentlich klar, dass du daran hättest sterben können?«
»Ja.« Tillmann blickte mich kühl an. »Aber ich bin nicht total bescheuert, Ellie. Ich hab sie vorher ausgekocht und desinfiziert, genauso wie das Rasiermesser, mit dem ich meine Haut aufgeschnitten habe.«
»Warum um Himmels willen machst du so etwas?« Ich griff automatisch an meine Brust. Das musste höllisch schmerzhaft gewesen sein.
»Grenzerfahrungen«, antwortete Tillmann einsilbig.
»Hatten wir nicht genug Grenzerfahrungen vergangenen Sommer?«
»Es ging mir um meine eigenen körperlichen Grenzen. Außerdem - man macht den Tanz, um Antworten zu finden. Vielleicht auch eine
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