Scherbenmond
Vision.«
An der Art und Weise, wie er das sagte, wurde mir klar, dass er keine Antwort gefunden hatte. Er hatte sich selbst verletzt, Tag und Nacht getanzt, um die Zweige aus seiner Brust zu reißen, und doch keine Antwort bekommen. Tessa hatte einen noch tieferen Eindruck hinterlassen, als ich befürchtet hatte. Sie war immer noch unter seiner Haut.
Pauls schwere Schritte tapsten durch den Korridor. Dann klickte seine Schlafzimmertür. Stumm lehnten wir nebeneinander auf dem Bett an der Wand und warteten. Nach einer Weile überwand ich meine Scheu und zog ebenfalls meine Strickjacke und mein Longsleeve aus, sodass ich nur noch in Hemdchen und Jeans neben Tillmann saß. Er würdigte mich keines Blickes. Doch die Maßnahme zeigte Wirkung. Die Kälte überzog meine Arme sofort mit Gänsehaut und beinahe freute ich mich darauf, mich bewegen zu können.
Dann, wie auf einen geheimen Einsatzbefehl hin, beugten wir uns nach vorne und zogen Schuhe und Socken aus. Wir würden barfuß tanzen.
Nach einer halben Stunde stand Tillmann wortlos auf und schlich hinüber zu Paul. Ein leises Scharren an der Wand verriet mir, dass er das Auge der Schlange gelöst hatte. Wir waren bereit. Ich erhob mich und band meine Haare zu einem widerspenstigen Zopf zusammen.
Lautlos kehrte Tillmann zurück, schaltete das Deckenlicht aus und nahm mir meinen MP3-Player aus der Hand, um ihn zu aktivieren. Nur noch die Nachttischlampe spendete eine gelbliche, matte Helligkeit. Unsere Silhouetten bewegten sich geisterhaft riesig über die Wand, und die Scheußlichkeiten auf Pauls Regalbrettern warfen bizarre Schatten an die Tapete.
»Ich hab sie so programmiert, dass sie exakt gleich laufen, wenn wir im selben Moment auf Play drücken.« Er gab mir das Gerät zurück. Ich legte den Finger auf die Taste.
»Eins, zwei, drei...« Wir schalteten ein.
Ich schloss meine Augen und versuchte zu vergessen, wo ich war, doch es gelang mir nicht. Zu deutlich fühlte ich die Enge dieses schmalen Zimmers und Tillmanns Gegenwart. Ich roch seine Haut, ein maskuliner und doch weicher Duft, und unter meinen Lidern leuchteten die wulstigen Narben seiner Brust. Die Bodendielen begannen sanft und rhythmisch zu schwingen, als er zu tanzen anfing, doch ich rührte mich immer noch nicht. Mein Mund wurde trocken. Das Koffein brachte mein Herz zum Rasen und Stolpern und trotz der nagenden Kälte jagten hitzige Wellen über meinen Rücken.
Nicht an Paul denken. Nicht an den Mahr. Nicht an Colin, an meinen Vater, an meine Mutter. Nur an die Musik.
Der zweite Titel machte es mir leichter. Die Wände, die ich eben noch so deutlich wahrgenommen hatte wie die Mauern eines Gefängnisses, wichen zur Seite. Die Decke über uns entschwebte. Ich war allein und doch nahm ich Tillmanns Schritte wahr, die sich gleichmäßig durch die Dielen übertrugen und meine Sohlen kitzelten. Ich passte mich ihnen an, erst zögerlich, dann mutiger, dann brauchte ich keinen Mut mehr. Es geschah von selbst.
Der Boden verlor seine Härte. Er wurde anschmiegsam, gab nach unter meinen nackten Füßen. Ich drehte mich, ließ die Arme hängen, ein Beat, ein Schritt, eine halbe Drehung - nichts anderes denken. Mein Kopf fiel in den Nacken, als ich meine Schultern leicht anhob, um meine Handflächen nach oben zu kehren, und ich glaubte, die heiße Sonne auf ihnen zu spüren, ja, ich roch das intensive Aroma verbrannter Steine und uralter Holzscheite, die vor mir im Sand verglühten.
Mein Herzschlag hörte auf zu stolpern und passte sich dem Beat an. Mein Körper hatte kein Gewicht mehr. Wir wurden eins - Tillmann, ich, unsere Herzen, die Musik. Die Bilder in unseren Köpfen. Er nahm mich mit, weg von hier. Weit weg von mir.
Der Schweiß lief meine Wangen und mein Kinn hinunter und rann an meiner Wirbelsäule hinab, die Jeans klebte an meinen Beinen. Mit der Zunge fing ich die salzigen Tropfen auf und zog neue Energie aus ihnen. Ich wusste nicht, wie lange wir schon tanzten. Die Musik nahm kein Ende, aber ich hätte geschrien, wenn sie verstummt wäre. Denn allein sie erlaubte es mir, zu schweigen und nur noch zu fühlen, nur noch Mensch zu sein, Herzschlag, Tanz, Atem. Ich wollte nie wieder die Augen öffnen. Hier, in mir, in meiner eigenen wachen Dunkelheit, war es kühl und geborgen.
Kein einziges Mal berührten oder streiften wir uns, obwohl wir nichts sahen. Ich bewegte mich sicher und geschmeidig durch die Finsternis. Und doch konnte ich nichts gegen die Schwere meiner Lider ausrichten, die
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