Scherbenmond
mochte er ja zweifeln. An meinem jedoch nicht.
Mit hallenden Schritten rannte ich zum Haus hinunter, wild entschlossen, das zu tun, wovor ich mich den gesamten Winter über gefürchtet hatte.
Ich würde die Kiste mit den Briefen öffnen.
Temperaturschwankungen
Im letzten Moment überlegte ich es mir anders, doch es war schon zu spät. Meine Finger hatten die Kiste ein Stückchen über den Rand bewegt, den Rest erledigte die Schwerkraft. Obwohl ich losließ und gleichzeitig zurückzuckte, als hätte ich mich verbrannt, krachten erst ich und dann die Kiste auf den Boden - und das leider so unglücklich, dass die scharfe Metallkante meine Schläfe traf.
Ich blieb ein paar Minuten lang scheintot liegen und wartete, bis sich der stechende Schmerz, der regelmäßig wie ein Metronom durch meinen Kopf pochte, in ein erträgliches Pulsieren verwandelt hatte. Mit fest geschlossenen Lidern streckte ich meine Hand aus und ließ sie auf den Teppich sinken. Es raschelte. Ja, das war Papier unter meinen Fingern. Eines der zwei Zettelchen, die in Mister X´ Halsband gesteckt hatten. Ich kannte beide immer noch auswendig, ebenso wie die Briefe.
»Du weißt ja - er liebt Fisch. Und ich liebe Dich.«
Einbildung? Leeres, unbeschriebenes Papier? Oder Buchstaben?
»Buchstaben«, flüsterte ich, nachdem ich endlich den Mut gefunden hatte, meine Augen zu öffnen, mich aufzurichten und neben mich zu blicken. »Buchstaben ...«
Da waren sie, Colins aristokratische Lettern. Die Tinte war ein wenig verblasst und nun beinahe braun, aber intensiv genug, um seine Zeilen geradezu aufleuchten zu lassen. Zwei Briefe, zwei Zettel. Beweise. Ich hatte Beweise.
Hastig faltete ich sie wieder zusammen, legte sie zurück in die Metallkiste, verschloss sie und verfrachtete sie an ihren Stammplatz auf dem Schrank. Den plötzlichen Gedanken, dass ich die Zeilen in meinem sommerlichen Irrsinn selbst verfasst hatte - möglich war alles im Hause Sturm -, verdrängte ich beharrlich. Ich hatte weder Büttenpapier noch Sepiatinte zur Hand. Nein, das hier waren Beweise, Schluss, fertig, aus. Schlimm genug, dass ich die halbe Nacht vor dem Schrank gesessen und gegen meinen inneren Schweinehund angekämpft hatte.
Jetzt hatte ich gewonnen und konnte aufbrechen.
So gut es mit einem tonnenschweren Koffer in der Hand möglich war, schlich ich die Treppe hinunter und nach draußen in den Hof. Ich wollte Mama nicht aus dem Schlaf reißen. Fürsorglich stellte ich die Standheizung an, damit meine hässlichen Kreaturen nicht an einem Kälteschock sterben würden, wenn ich sie dem Kofferraum des Wagens anvertraute. Dann schleppte ich die Aquarien und Terrarien nach unten.
Bei meinem zweiten Schleichgang die Treppe hinauf und hinunter wurde Mama wach. Stumm und mit verschränkten Armen - fror sie oder missbilligte sie, was ich da tat? - sah sie mir dabei zu, wie ich ein Ungetüm nach dem anderen durchs Morgengrauen trug und die durchsichtigen Transportboxen, die ich gestern noch besorgt hatte, beinahe zärtlich zwischen Wasserkasten, Terrarien und Erste-Hilfe-Paket klemmte. Im Kofferraum war es inzwischen warm genug. Berta sprang dennoch gereizt gegen die Wand ihrer Box, als ich sie als letzte sensible Fracht ins Auto brachte, und für eine Schrecksekunde schoss mir Tessas modriger Geruch in die Nase. Ich hielt inne und atmete tief aus und ein. Mama beobachtete mich lauernd.
»Kein Frühstück?«, fragte sie wortkarg. Ich drehte mich zu ihr um und sah, dass sie geweint hatte. Ich schüttelte nur den Kopf. Mein
Mund war trocken und die Zunge schien mir am Gaumen festzukleben. Ich wollte nichts essen und reden konnte ich auch nicht. Wir nahmen uns hölzern in die Arme, ohne uns dabei besonders nahezukommen.
»Pass auf dich auf, Ellie«, sagte Mama, doch sie schien nicht daran zu glauben, dass ich mich an ihren Rat halten würde, nachdem ich ihn im Sommer mit aller Macht in den Wind geschlagen hatte.
Bevor ich die Handbremse löste und den Gang einlegte, schob ich die neue Moby-CD in den Player. Sie hatte mir den Winter gerettet und ich hoffte inständig, dass sie mir auch die Autofahrt nach Hamburg erträglich machen würde. Ich besaß kein Navigationssystem, nur eine Karte, die ich beim Fahren jedoch schlecht lesen konnte. Mama hatte mir die Adresse von Pauls Wohnung notiert, aber so weit dachte ich gar nicht. Wenn ich erst in Hamburg war, lautete meine Devise, erledigte sich der Rest von ganz alleine.
Dass sich gar nichts von allein erledigte, wurde mir bereits
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