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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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auf der Landstraße klar. Der Asphalt war eisglatt und rutschig, die Reifen machten ein merkwürdiges vibrierendes Geräusch unter meinen Oberschenkeln und der dahinkriechende Traktor vor mir trieb mich in den Wahnsinn. Entnervt startete ich das erste Überholmanöver meines Lebens. Die Gegenfahrbahn war schließlich frei.
    Ich trat aufs Gas und alles Weitere lag nicht mehr in meiner Hand. Mit einem jähen Ruck schob sich der Hintern des Volvos zur Seite. Die Reifen quietschten schrill, als ich panisch meinen Fuß auf die Bremse hieb. Beinahe elegant drehte der Kombi sich einmal um sich selbst, während der Trecker haarscharf an meinem Heck vorüberzog, und rumpelte dann mit der Schnauze voran in den Feldweg neben der Straße. Dort versagte der Motor. Ich hatte ihn mit meiner Aktion abgewürgt. Es gab einen kurzen, unerwarteten Schlag, der meine Stirn gegen das Lenkrad knallen ließ.
    »Und wieder ein paar Gehirnzellen weniger«, diagnostizierte ich, bevor mein Körper begriff, was gerade passiert war. Mein Herz sprang mit einem Satz in meinen Hals und versuchte, ihn hektisch pochend zu sprengen. »Oh Gott«, wimmerte ich.
    Schlagartig war mir so heiß, dass ich mit bebenden Fingern den Gurt löste und mich aus meiner Jacke schälte. Dann hatte mein Gehirn das Absterben seiner Zellen mit einem Mal überwunden und machte mir augenblicklich klar, wo ich mich befand. Das war nicht irgendein Feldweg. Das war der Feldweg. Jener Feldweg, der mich zu Colins Haus im Wald bringen würde.
    Ich hatte das Haus nie wieder aufgesucht. Als Tillmann und ich auf Louis davongestürmt waren, hatten wir Tessa in ihrer rasenden Gier auf dem kiesbestreuten Hof zurückgelassen - ich gab mich keinen Illusionen darüber hin, dass sie das Haus noch einmal betreten und alles an sich gerissen hatte, was sie zwischen ihre abartig kleinen, behaarten Finger packen konnte. Während er mit ihr gerungen hatte, waren Tillmann Gegenstände von Colin in die Hände gefallen, die sie zuvor gestohlen und in ihre Gewänder geschoben hatte, und auch Colins Wagen war von den Kratzspuren ihrer Nägel übersät gewesen. Ich wollte das Haus so in Erinnerung behalten, wie ich es kennen- und lieben gelernt hatte. Diese berückend stilvolle Mischung aus Alt und Neu, Colins breites Bett mit dem samtigen roten Überwurf, sein Badezimmer, das mich an die Kajüte eines Luxussegelschiffes erinnerte, sein zerschlissener Kilt an der Wand - wer wusste schon, wie es jetzt dort aussah?
    Ich hatte kaum Zweifel, dass Tessa fort war. Doch ich hatte ihre Spuren nicht sehen, nicht wahrhaben wollen. Nicht solange ich hier leben musste.
    Hinter mir brauste ein Schulbus über die Straße. Der Volvo erzitterte. Seine Hinterreifen drehten durch, als ich den Motor anwarf und rückwärts aus dem Feldweg herausfahren wollte. Er weigerte sich und zum Wenden hatte ich nicht genügend Platz. Aber in Co-lins Hof war Platz - gerade so viel, dass ich mich ohne weitere gefährliche Manöver wieder auf den richtigen Weg begeben konnte. Außerdem verbreiterte sich die Straße kurz vor dem Forsthaus.
    Das waren die sachlichen Argumente. Schön und gut. Doch sie beeindruckten mich wenig. Viel mächtiger war der unterschwellig nagende Wunsch, noch ein einziges Mal unter dem Dach vor dem Haus zu sitzen und auf den Waldsaum zu blicken, wenn auch allein, wenn auch bei Minusgraden und im Schnee. Aber dort zu sitzen, nur ein paar stille Atemzüge lang, würde mir vielleicht die Kraft für all das geben, was ich vorhatte. Ich wollte ja nicht ins Haus hineingehen, sondern nur da draußen sitzen. Sonst nichts.
    Andererseits: Öffnete ich damit nicht alte Wunden? Würde die Sehnsucht nicht viel schlimmer werden, als sie ohnehin schon war? Oder fand ich das Haus nicht nur leer, sondern gar völlig verändert vor, so wie in meinen aufreibend langen schlechten Träumen, in denen es zu einem finsteren, modrigen Loch verkommen war, besetzt von Kellerasseln und Schaben, mit verschimmelten Wänden und erdrückend niedrigen Decken?
    Aber es war mein Refugium gewesen. Beinahe war es mir wie eine Burg vorgekommen, die mich schützte - die uns schützte. Bis Tessa gekommen war. Und verflucht, sie sollte nicht die Letzte gewesen sein, die dort gewesen war. Sie nicht.
    Ungläubig sah ich mir dabei zu, wie ich den ersten Gang einlegte und in den Wald hineinfuhr. Der Wagen kroch dahin - je näher ich dem Haus kam und je dunkler das Dickicht um mich herum wurde, desto stärker drosselte ich das ohnehin geringe Tempo. Mein

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