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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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Atem ging nur noch stoßweise, wie in den fiebrigen Nächten meiner Bronchitis, wenn ich hustend und würgend geglaubt hatte, mein letztes Stündlein habe geschlagen. Etwas lastete auf meiner Brust...
    Beim nächsten gepressten Atemzug trat ich erneut auf die Bremse, diesmal eine Spur liebevoller als vorhin. Der Volvo kam ohne
    Schleudergänge zum Stehen. Mit einem Klacken drehte ich den Schlüssel herum und der Motor erstarb. Die Stille tropfte wie flüssiges Blei in meine Ohren. Einen Moment glaubte ich, taub geworden zu sein. Doch leider hatte ich meine Sehkraft behalten. Ich blinzelte, kniff die Augen zu, öffnete sie wieder - das alte Spiel. Ich hatte immer noch nicht gelernt, dass es Dinge gab, die meinen Horizont aufs Brutalste erweiterten.
    Das hier war eines davon. Klebrig und tödlich und vollkommen unlogisch. Spinnweben. Überall zwischen den Büschen und Bäumen - selbst die Steine auf dem Schotterweg waren von ihnen überzogen. Sie bedeckten die Baumstümpfe, das Laub und die Stämme der Tannen, zogen sich in einem verwirrenden, aber beängstigend ästhetischen Muster von Strauch zu Strauch, und zwar bis zu einer Höhe von einem Meter fünfundvierzig. Tessas Körpergröße.
    Abseits des Weges gab es nicht eine einzige Möglichkeit, einen Schritt in den Wald hineinzugehen, ohne die Spinnweben zu berühren und ihre Bewohner zu reizen. Welche Bewohner?, fragte ich mich mit schwachem Spott. Es mussten Überbleibsel aus dem Herbst sein, beim ersten Frost eingefroren und konserviert, und weil bis hierher keine Menschenseele vordrang, waren sie geblieben. Eine Laune der Natur, nicht mehr. Doch ich wusste, dass das nicht stimmte. Das Wild, das hier nachts durch das Dickicht streifte, hätte sie zerreißen müssen. Oder gab es hier gar kein anderes Leben? Vielleicht sollte ich mir die Netze ansehen. Nur kurz. Ein flüchtiger Blick, um mich davon zu überzeugen, dass es so war, wie ich dachte. Kältestarre. Doch wenn ich ehrlich war, suchte ich nur einen Grund, um meinen sicheren Platz im Auto zu verlassen. Denn es waren nicht allein die Abertausend Spinnweben, die mich irritierten und meine Neugierde weckten, sondern auch die schmale Rauchsäule, die sich hinter der nächsten Biegung - also nur wenige Schritte von Colins Haus entfernt - in den blassen Himmel schob.
    Ich versuchte, die gespenstische Stille und die flüchtige Überlegung, wie viele Bertas wohl in all den Netzen hausten - ob schockgefrostet oder nicht -, zu ignorieren, und öffnete die Tür. Argwöhnisch schnupperte ich. Nein, kein Moder, kein erstickender, bestialischer Moschus. Es roch nach heißen Steinen und nach -nach Salbei? Ich zog witternd die Luft ein. Ja, Salbei, eindeutig.
    Nun, es war sicher nicht Tessa, die sich in einem morgendlichen Barbecue ihre Schweinelende im Kräutermantel briet. Mahre brauchten kein menschliches Essen. Trotzdem öffnete ich den Kofferraum und warf einen prüfenden Blick auf Berta. Sie machte einen beleidigten Eindruck, befand sich aber weder im Paarungsrausch, noch sprang sie gegen das Glas. Sie hockte einfach nur da und wartete.
    Ich ließ die Verriegelung des Autos einrasten. Und wieder aufschnappen. Für eine eventuelle Flucht war das die bessere Voraussetzung. Ich setzte mich in Bewegung, der Rauchsäule entgegen, und musste aufpassen, dass meine glatten Sohlen auf den eisüberzogenen Schottersteinen nicht ins Rutschen gerieten. Ab und zu glitt mein Blick über die Spinnweben links und rechts von mir, doch ich war nicht kühn genug, um bewusst hineinzublicken oder sie gar zu berühren. Erst wollte ich sehen, was am Haus vor sich ging. Mit prügelndem Herzschlag steuerte ich die Qualmwolke an - und brauchte einige Sekunden, um zu verstehen, was ich da sah.
    Es war kein Barbecue. Es war ein Zelt, zusammengesetzt aus mehreren Planen, die sich über ein Astgestell spannten. Dampf quoll aus den Ritzen und verlor sich zwischen den Zweigen der kahlen Bäume. Der Salbeigeruch war nun so stark, dass er mich in der Nase kitzelte. Vor dem Zelt brannte ein kleines Feuer, in dem dicke, runde Steine lagen und vor Hitze glühten.
    »Was tust du da?«
    Tillmann drehte sich nicht zu mir um. Regungslos saß er im
    Schneidersitz vor dem Zelteingang, den Blick auf die züngelnden Flammen gerichtet. Sein Gesicht schimmerte rötlich und doch fiel mir auf, dass seine Haare blasser geworden waren. Sie hatten nicht mehr jenes feurige Tizianrot, das Tillmann überall hatte herausstechen lassen. Auch seine Haut hatte sich verändert.

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