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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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Die Sommersprossen waren geblieben, aber sie hoben sich kaum noch vom milchigen Grundton seiner Wangen ab.
    »Ich hab dich gefragt, was du da tust!«, zischte ich, obwohl mir sonnenklar war, was er - oberflächlich betrachtet - tat. Er hockte vor Colins Haus und zelebrierte eine indianische Sauna. Auch eine nette Art, sich den Winter zu vertreiben. Und so spirituell.
    »Ich schwitze nicht mehr, Ellie.« Seine Stimme war tiefer geworden. Dabei war sie für sein Alter ohnehin tief gewesen. Ich erschauerte unwillkürlich und wusste nicht, was ich erwidern sollte. Warum sah er mich nicht an? Und was bedeutete das - er konnte nicht mehr schwitzen?
    »Ich bin rothaarig«, fuhr Tillmann scheinbar ungerührt fort, doch ich sah, dass seine Kiefermuskeln sich verkrampften. Er lachte lautlos auf. »Korrektur. Ich war rothaarig. Doch ich bin immer noch hellhäutig. Ich hab früher weder Hitze noch Sonne gut vertragen. Ich müsste eingehen da drinnen. Es hat fast hundert Grad in dem Zelt. Aber es passiert - nichts. Nichts.«
    »So. Und anstatt mit mir darüber zu reden, sitzt du hier in diesem Scheißwald und lässt dich braten? Wartest du etwa darauf, dass sie zurückkommt?«
    Tillmann ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, aber seine Lippen wurden schmal. Hässlicher hatte die Begegnung mit Tessa ihn nicht werden lassen. Ganz im Gegenteil.
    »Ich warte darauf, dass ich verstehe, was passiert ist.«
    Nein. Seine winterlichen Saunagänge in Ehren, aber das ging nicht. Er durfte hier nicht sitzen bleiben. Begründen konnte ich diese Überzeugung nicht und Befehle hasste er, aber eines spürte ich genau: Das, was er tat, war keine Lösung. Hier würde alles nur noch schlimmer werden. Er war mitten in ihr Gift eingetaucht und glaubte, darin seine Heilung zu finden - so kam es mir vor. Das war absurd. Außerdem brauchte ich einen Freund. Ich sehnte mich nach jemandem, der mir beistand. Jemandem, der verstehen konnte, warum ich wegmusste. Und mir die Karte las?
    »Komm mit mir mit, Tillmann. Ich fahr nach Hamburg, zu meinem Bruder ... Du darfst hier nicht bleiben. Bitte. Bitte!«
    Doch er fuhr damit fort, in die Flammen zu starren, ohne mir eine Antwort oder auch nur einen Blick zu schenken. Ich kam nicht an ihn heran.
    »Mein Vater ist verschwunden«, sagte ich in das Knistern des Feuers hinein. Dann drehte ich mich um und lief, nein, rannte zurück zum Auto, schob mich hinter das Steuer und vollführte eine Wendung quer durch zerreißende Spinnweben, aufspritzende Schottersteine und knirschende Äste, die Herrn Bommel das kalte Grauen gelehrt hätte.
    Erst als ich den Wald weit hinter mir gelassen und die Autobahn erreicht hatte, konnte ich wieder frei atmen.

Gen Norden
    Während meiner dritten Runde durch Hamburgs Großstadtschluchten - meine Reise glich inzwischen der großen Butterfahrt der Orientierungslosen - begann ich haltlos zu weinen, bis mir der Rotz aus der Nase lief und ich mich an meinen eigenen Tränen verschluckte. Doch das Weinen war ein Fehler. Genauso wie es ein Fehler gewesen war, mich auf der Autobahn äußerst verschwenderisch am Scheibenwischwasser gütlich zu tun. Dieses verfluchte Wischwasser war seit zehn Minuten leer und meine Windschutzscheibe durch das aufspritzende Streusalz von einem schmierigen Film überzogen. Ich sah kaum etwas, konnte kein Schild mehr lesen und die Rückleuchten der Autos vor mir verwandelten sich in riesige, schwammige Strahler. Ertränkt vom Salz meiner Tränen kapitulierten nun zu allem Überfluss auch noch meine Kontaktlinsen - ohnehin restlos ausgetrocknet von der Wagenheizung, beschlugen sie ebenfalls mit einem zähen Nebel. Ich war so gut wie blind.
    Panisch griff ich nach vorne und betätigte ein paar Schalthebel, um die Heißluft auf die Scheibe zu richten und der Wischanlage einen letzten Tropfen Wasser abzuringen. Doch sie pfiff nur hohl Luft in den Tunnel, den ich gerade zum mindestens vierten Mal durchfuhr. Dafür sprang infolge meiner wirren Knöpfedrückerei das Radio an und Zarah Leander schmetterte: »Davon geht die Welt nicht unter ...«
    Ich klammerte mich mit meinen trüben Augen an die Rückleuchten der Autoschlange vor mir und folgte ihr, so gut es ging. Blinzelnd versuchte ich, die Schilder - wenigstens die großen - zu entziffern. Nein, zu erraten. Nach zwei Ampeln, die ich dazu nutzte, Zarah Leander das Maul zu stopfen, tauchte rechts vor mir der gähnende Schlund einer Hoteltiefgarage auf. Ich fädelte mich durch die empört hupenden Autos auf der Spur

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