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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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neben mir und donnerte abwärts. Die Stoßstange polterte gegen die Schranke, weil ich zu spät bremste, doch nach einigen Verrenkungen gelang es mir, ein Ticket zu ziehen. In der hintersten Ecke fand ich eine Parklücke und bugsierte den Wagen unter viel Geschluchze, Kurbeln und Fluchen hinein.
    Und jetzt? Ich war klatschnass geschwitzt, ausgehungert, fast am Verdursten und blind. Und ich hatte vier bewohnte Plastikboxen im Kofferraum, die hier nicht bleiben durften. Nicht in dieser kalten, sauerstoffarmen Abgasluft.
    Taumelnd umrundete ich den Wagen, um die Ladeklappe zu öffnen. Meine lieben Tierchen befanden sich allesamt in Schockstarre. Ich konnte es ihnen nachfühlen, ich hätte mich gerne dazugelegt. Außerdem konnte ich nicht aufhören zu heulen und ich wollte es auch nicht mehr, weil ich genau wusste, was dann passierte. Die salzverkrusteten Linsen würden sich auf meiner trockenen Hornhaut festsaugen. Also sorgte ich besser für dauerhafte Befeuchtung.
    Deshalb heulte ich fleißig vor mich hin, als ich mit vier Transportboxen auf meinen schmerzenden Unterarmen - ich hatte sie stapeln müssen und lief breitbeinig wie ein Seemann bei Sturm, um den traumatisierten Heinz nicht seines rutschenden Steins zu berauben - gegen den Reifen eines Taxis trat. Öffnen konnte ich die Tür nicht und winken erst recht nicht. Der Fahrer ließ die Fensterscheibe heruntergleiten und wollte schon dazu ansetzen, mich zu beschimpfen, als er meines tränenverschmierten Gesichts und gleich darauf Bertas langer, schwarz glänzender Beine gewahr wurde, die sich erzürnt gegen die Scheibe ihrer Behausung pressten. Das Mitleid in seinen Augen ging fließend in Furcht über.
    »Bitte«, murmelte ich kraftlos. »Bitte, bitte nehmen Sie mich mit. Bitte. Ich geb Ihnen mein ganzes Geld. Aber bringen Sie mich zu meinem Bruder.«
    Ich wusste, dass das furchtbar dramatisch klang, doch es war mein voller Ernst. Und es zeigte Wirkung. Der Mann half mir, die Transportboxen im Kofferraum zu fixieren (um Heinz machte ich mir ernsthaft Sorgen, er wirkte noch depressiver als sonst), und stellte das Taxameter erst an, als wir uns wieder in diesem verfluchten Tunnel befanden.
    Ich las ihm die Adresse von Pauls Wohnung vor.
    »In der Speicherstadt? Sind Sie sich sicher? Wandrahm?«
    »Ja - eigentlich schon.« Oder war das eine Fakeadresse? Hatte Paul uns nicht einmal seine richtige Anschrift genannt? Mama hatte ihm doch jedes Jahr zu Weihnachten ein Paket geschickt und es war nie zurückgekommen. Es musste diese Adresse geben. »Was stimmt denn nicht mit der Anschrift?«
    »In diesem Teil der Speicherstadt gibt es nur Büros und Lager und Geschäftsräume. Um die Uhrzeit ist da eigentlich niemand mehr. Soll ich Sie vielleicht besser erst einmal zu Ihrem Hotel bringen?«
    »Nein danke.« Ich seufzte schwer. »Ich habe kein Hotel. Und ich muss dorthin. Alter Wandrahm 10.« Falls Paul tatsächlich dort wohnte, dachte ich in einem neuen Anflug von Panik. Doch eine andere Adresse hatte ich nicht.
    »Das ist es«, sagte der Fahrer, als wir nach zehn Minuten hielten. Er schaltete den Motor aus. Ich schaute durch das Seitenfenster an dem hohen, finsteren Backsteingebäude empor. Ganz oben brannte Licht. Die anderen Fenster waren schwarze Höhlen. Wie eine Festung standen die Häuser dicht an dicht, dazwischen zogen sich schnurgerade Wasserstraßen, deren schwarze, glitzernde Oberfläche nur von den gelblichen Lichtkegeln der altmodischen Laternen erhellt wurde. Eine Ratte huschte über den Bürgersteig und verschwand in der Finsternis. Kurz darauf hörte ich ein leises Plätschern. Sie schwamm.
    »Kommen Sie, ich bringe Sie in ein Hotel. Das hier ist mir nicht geheuer. Vielleicht haben Sie sich in der Uhrzeit geirrt...« Der Taxifahrer zog unbehaglich den Nacken ein, als würde er sich fürchten und so schnell wie möglich wieder fortwollen.
    »Nein«, erwiderte ich entschlossen. »Wie gesagt: Ich habe kein Hotel. Und mit meinen Viechern würde mich sowieso keines aufnehmen.«
    Ohne dass ich es darauf angelegt hatte, war mein Weinen verebbt. Mir war flau vor Durst und Hunger, aber das war ein Witz im Vergleich zu meiner übervollen Blase. Ich war seit heute früh nicht mehr auf dem Klo gewesen, und als ich jetzt die Autotür öffnete und mich erhob, bekam ich Angst, ich würde zum ersten Mal in meinem Leben in die Hose machen.
    Eilig drückte ich dem Fahrer das Geld in die Hand und holte die Tiere aus dem Kofferraum. Nun ging es um Sekunden.
    »Danke!«, rief

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