Scherbenmond
ich und warf mich gegen die schwere Eingangstür des Hauses. Leise quietschend schwang sie auf, um mir den Weg in einen dunklen, muffig riechenden Flur freizugeben. Ich hörte das Wasser an die Außenwand schlagen; kleine, harte Wellen, die beharrlich an den Backsteinen nagten.
Es sprang kein Licht an, doch in der Ecke erkannte ich schemenhaft einen uralten, monströsen Aufzug - ein Ungetüm aus schwarzem Stahl, aber offenbar funktionstüchtig und mit genügend Platz für meine Tierschar. Ich wählte das oberste Stockwerk - hier unten schien es sowieso keine Wohnungen zu geben und nur oben hatte Licht gebrannt - und mit einem beängstigenden Röhren setzte sich der Metallkäfig in Bewegung.
»Schnell, schnell«, bettelte ich auf der Stelle trippelnd und fest darauf konzentriert, weder an das plätschernde Wasser noch an eine Toilette zu denken. Ich würde mich maximal eine weitere Minute beherrschen können. Länger nicht. Hatte ich nicht kürzlich erst gelesen, dass eine Blase platzen konnte? Und dass dies unweigerlich zum sofortigen Tod führte?
Plötzlich waren mir Heinz und Konsorten egal. Ich ließ sie im Aufzug stehen, sobald er schwankend hielt, und stürzte zur nächstbesten Tür. Nach drei flachen Atemzügen Dauerklingeln - tief atmen ging nicht mehr - öffnete sie sich endlich.
»Ich muss aufs Klo«, verkündete ich gehetzt und stürmte blind nach vorne. Badezimmer befanden sich meistens am Ende eines Flurs ... Und ja, da gab es eine Tür ... Ich rüttelte hektisch an der Klinke.
»Das ist die Speisekammer. Rechts«, drang eine Stimme durch den Korridor.
Ich schlug einen Haken und zerrte mir gleichzeitig die Jeans hinunter. Geschafft. Ich ließ mich fallen. Die Keramik unter mir schepperte klagend. Mit einem glückseligen Lächeln lehnte ich den Kopf an die Kacheln hinter mir. So etwas nannte man dann wohl »in letzter Sekunde«.
Ich blieb noch eine Weile auf der eisigen Klobrille sitzen, einfach nur froh, mich nicht mehr im Volvo und in Hamburgs Feierabendverkehr zu befinden, sondern in der richtigen Wohnung bei meinem Bruder - aber war der Mann, der mir geöffnet hatte, überhaupt mein Bruder gewesen? Ich hatte nicht aufs Klingelschild geguckt, dafür war keine Zeit geblieben. Ich hatte geglaubt, seine Stimme zu erkennen, doch angeschaut hatte ich den Mann nicht.
Oh mein Gott. Saß ich nun etwa bei einem Fremden auf dem Klo? Alarmiert blickte ich mich um. Konnte das Pauls Badezimmer sein? Alles sah sehr teuer aus. Es erinnerte mich an ein Hotelbadezimmer.
In dem Glasregal neben dem Waschbecken standen fast so viele Parfums wie bei Colin, nur schienen sie neueren Datums zu sein. Daneben eine Gesichtscreme für tagsüber, eine Gesichtscreme für abends. Nachtcreme? Paul und Nachtcreme? Paul hatte sich früher am liebsten Schneckenschleim ins Gesicht geschmiert. Oder hatte er eine Freundin und die Sachen gehörten ihr? Nein, es waren »for men«-Produkte.
»Das war mindestens eine Minute Dauerplätschern. Alle Achtung«, tönte es aus dem Flur. Ich kicherte unwillkürlich, war mir aber immer noch nicht sicher, ob das Pauls Stimme war. Wenn es seine war, durfte ich kichern. Falls nicht, musste ich auf der Stelle die Flucht ergreifen. Paul und ich hatten früher manchmal Wettbewerbe gestartet, in denen es darum ging, wer am längsten pinkeln konnte. Doch mit einem Fremden wollte ich solche Wettbewerbe ganz gewiss nicht veranstalten.
»Willst du nicht langsam mal da rauskommen? Lupinchen?«
Meine Augen füllten sich erneut mit Tränen. Nur Paul hatte mich Lupinchen genannt, als ich klein war - und zwar meistens dann, wenn ich nicht schlafen konnte. Er war Lupo, der Wolf; ich war das Lupinchen. Und der Wolf beschützte sein Lupinchen, wann immer es schlecht träumte.
»Du bist es doch, oder?«
»Ja«, sagte ich schwach, zog die Hose hoch, spülte und tappte auf unsicheren Knien in den Flur. Paul stand noch an der Eingangstür. Fragend deutete er auf die Transportboxen.
»Deine neuen Freunde?«
»So ähnlich«, erwiderte ich und grinste.
Doch Paul erwiderte mein Grinsen nicht. »Ellie, du hasst Spinnen und Insekten. Du hast früher geheult, wenn eine Spinne in deinem Zimmer war, und die ganze Nacht nicht geschlafen, und jetzt trägst du sie mit dir herum?«
Ich antwortete nicht. Stattdessen ging ich zögerlich auf ihn zu, um ihn zu mustern. Er tat das Gleiche bei mir.
»Du bist fett geworden«, stellte ich fest und zwickte ihn in die Seite, wohlwissend, dass ich maßlos übertrieb. Doch früher
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