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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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war Paul genauso ein Hungerhaken gewesen wie ich und jetzt hatte er eindeutig einen kleinen, gemütlichen Bauchansatz. Auch seine Schultern waren massiver geworden. Die Muskeln seiner Oberarme drückten sich bullig durch sein schwarzes Longsleeve. Er trug eine außergewöhnlich designte Uhr, die teuer aussah, und lässige Jeans. Sofort fielen mir die breiten Silberringe an seinen Händen auf -seinen großen, schönen Händen -, drei rechts und zwei links. Die hatte er früher ebenfalls nicht gehabt. Lange Haare auch nicht.
    Seine stahlblauen Adleraugen suchten meine und wie immer, wenn ich Paul ansah, musste ich lächeln. Das ging gar nicht anders. Ein Erbstück von Papa. Nur war Pauls Blick schärfer, sein Lachen jedoch entwaffnender und spitzbübischer. Dennoch war er mir auf eine beunruhigende Art und Weise fremd geworden. Sein breiter, geschwungener Mund hatte sich verändert. Und sein Lächeln vermochte es nicht, den melancholischen, ja, beinahe leidenden Ausdruck zu mindern, der sich in seine Mundwinkel gegraben hatte.
    Über all das legte sich immer noch der Schleier auf meinen Kontaktlinsen, was der Situation eine unwirkliche Atmosphäre verlieh. Paul wirkte, als würde er mich aus einem tiefen, kalten Nebel heraus anblicken.
    »Und du bist ziemlich hübsch geworden.«
    »Ich war es früher also nicht?«, fragte ich angriffslustig, obwohl ich mir sicher war, dass Paul gewohnt charmant log. Ich konnte nicht hübsch aussehen - nicht jetzt, nach einer solchen Höllentour und halbstündigem Geheule.
    »Warum bist du hier, Ellie?«
    Mein Magen knurrte unüberhörbar, bevor ich antworten konnte.
    In Pauls Wohnung duftete es nach mit Käse überbackenem Toast und mir lief das Wasser im Mund zusammen.
    »Ich hab Durst. Und Hunger. Ich muss etwas essen. Und dann muss ich schlafen. Vielleicht vorher duschen ...«
    »Okay, ich hab verstanden. Du willst bleiben.« Paul sah mich zweifelnd an. Er würde mich doch wohl nicht wieder wegschicken? Ich nickte stumm.
    Er überlegte eine Weile. »Na gut. Dann bring deinen Kram rein.«
    »Ich hab keinen Kram. Nur die Viecher. Das Auto«, ich sagte instinktiv »das Auto« und nicht »Papas Auto«, »steht in der Tiefgarage ... Verdammt ... Wo bloß? Ich wusste einfach nicht mehr, wo ich war ... Irgendein Hotel. Und da ist mein Koffer drin.«
    Paul verdrehte die Augen. Kopfschüttelnd sah er mich an, einen Hauch belustigt und genervt zugleich. Und leider auch auf fast auslotende Weise distanziert.
    »Es ist wirklich nicht schwer, die Speicherstadt zu finden. Wie konntest du dich nur so verfahren?«
    »Ich wusste ja nicht, dass diese Straße in der Speicherstadt liegt. Das ist alles neu hier und mein Führerschein übrigens auch!«, verteidigte ich mich fahrig. »Ich dachte, ich schau auf die Karte, sobald ich hier bin, aber - meine Kontaktlinsen.«
    Paul schüttelte erneut den Kopf.
    »Du fährst nach Hamburg, ohne dich genau zu informieren, in welchem Teil der Stadt ich wohne? Okay, jetzt guck nicht so, ist ja gut. Kannst du ein paar Schritte laufen?«
    »Ich weiß nicht«, murmelte ich kläglich. Offen gestanden hatte ich keine Lust, ein paar Schritte zu laufen.
    »Du kannst also laufen. Lass uns erst einmal was essen. Danach sehen wir weiter.«
    Und Lupo nahm Lupinchen bei der Hand, um sie in eine neue Welt zu entführen.

Meinungsverschiedenheiten
    »Also, warum bist du hier?«
    Ich löste mich nur unwillig von der Schale mit den Pommes, die vor mir auf dem speckigen Tresen der Imbissbude ruhte und darauf wartete, verspeist zu werden. Ich hatte mich für Fast Food entschieden, nicht Paul. Der hatte mich eigentlich in einen piekfeinen Nobelschuppen schleppen wollen. Doch ich wollte mich nicht benehmen müssen, nicht heute Abend. Also war er mir voraus zu den Landungsbrücken marschiert, wo sich ein Touristenimbiss an den anderen reihte und es auch etwas anderes als Fischbrötchen gab. Doch momentan waren wir fast die Einzigen hier. Ein eisiger Wind strich um meine Knöchel und ich hatte keinen Sinn für die maritime, weltoffene Atmosphäre, von der Paul eben noch geschwärmt hatte. Ich wollte so schnell wie möglich zurück ins Warme und mich ausstrecken, große Freiheit hin oder her. Noch einmal schnupperte ich an den Pommes, dann sah ich auf. Paul taxierte mich ruhig, aber mit jener eisernen Beharrlichkeit, die ihm schon immer eigen gewesen war.
    »Wo ist deine Currywurst?«, fragte ich verwirrt. Paul fuhr sich mit seiner Serviette über den Mund und warf sie in den Mülleimer.

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