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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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Absatz um und begann zu laufen - zurück zur Speicherstadt. Das war einfach: stur geradeaus. Doch sobald der Hafen hinter mir lag und die trutzigen Backsteingebäude mich umfingen, verlor ich einmal mehr jeglichen Orientierungssinn.
    Beim Hinweg hatte ich nicht darauf geachtet, welche Straßen wir genommen hatten. Ich war einfach nur neben Paul hergetrottet, viel zu müde und in Gedanken verloren, um Straßenschilder zu lesen. Aber das hier war eine Stadt, kein Wald. Im Wald - das hatte ich im Sommer gelernt - fand man immer irgendwann eine Stelle, von der aus man sich orientieren konnte; meistens eine Erhebung oder einen Hochsitz. Hier aber gab es keine Hochsitze und erst recht keine Erhebungen. Ich war in Hamburgs Speicherstadt; schier endlose Häuserreihen, unzählige Brücken und weit und breit keine Möglichkeit, einen Aussichtspunkt zu finden. Doch selbst das hätte mir nicht geholfen. Ich hatte nicht mehr in Erinnerung, wie das Haus ausgesehen hatte, in dem Pauls Wohnung untergebracht war. Alle Gebäude lagen zur einen Seite am Wasser und zur anderen an der Straße. Für mich war eines wie das andere, wuchtig und unnahbar. Und wo nur waren die Straßenschilder? Ich fand sie nicht. Baustellen, ja, die hatte es gegeben in Pauls Straße, aber Bäume? An Bäume konnte ich mich nicht erinnern. Hier aber gab es Bäume.
    War es vielleicht die Häuserreihe da drüben? Mit den runden Balkonen? Ich überquerte schwer atmend eine weitere Brücke. Beim Weg von den Landungsbrücken zur Speicherstadt hatte ich die Leute auf den Bürgersteigen beiseitestoßen müssen, um durchzukommen. Jetzt war ich allein. Von fern hörte ich das Rauschen der Autos und zum ersten Mal traf ein Hauch stickiger Moder meine Nase.
    Als ich mich an das stählerne Brückengeländer lehnte, um für einen Moment auszuruhen, drang wieder ein emsiges, animalisches Plätschern zu mir hoch. Ratten. Ich schaute gebannt auf das Wasser, das stillzustehen schien. Ein dunkler, runder Schatten schlängelte sich Richtung Ufer und erklomm dort gespenstisch schnell die Wand des Lagerhauses, um in einer der schießschartenartigen Luken im Kellerbereich Zuflucht zu suchen. Zwei weitere Schatten, die so plötzlich auftauchten, als würden sie aus den feucht glänzenden Backsteinen herauswachsen, folgten ihm.
    »Hierher!«
    Ich schrak auf und sah mich um. Paul stand am Ende der Brücke und winkte mich zu sich. Ich gehorchte ihm dankbar und schloss zu ihm auf, ohne ihm ins Gesicht zu sehen. Stumm liefen wir die wenigen Meter zum Wandrahm 10 hinüber.
    »Dir müsste man mal den Hintern versohlen«, sagte Paul, als wir im Halbdämmer des Aufzugs nach oben ratterten. Ich hörte, dass er lächelte. Ich war immer noch zornig, fühlte mich aber zugleich mutterseelenallein, und so wagte ich es, seinen Blick zu erwidern. Sein Lächeln konnte den tiefen Zweifel in seinen Augen nicht ersticken. Es würde ein hartes Stück Arbeit werden, Papas Auftrag zu erfüllen, und für heute hatte ich genug geschuftet.
    »Morgen suchen wir erst einmal dein Auto«, beschloss Paul, als habe es unseren Streit nie gegeben.
    »Musst du nicht zur Uni?«, fragte ich gähnend. Doch Paul hatte schon die Wohnungstür aufgeschlossen und schob mich sanft in den Flur.
    »Meinst du, du kannst hier drin schlafen? Ist mein Spielzimmer.« Er drückte eine Tür auf.
    »Dein Spielzimmer«, echote ich. Ja, das war sein Spielzimmer, auch wenn jedem normalen Menschen darin das Spielen ein für alle Mal vergangen wäre. Vor mir erstreckte sich ein schmaler Raum mit hohen Decken, an dessen Wänden Paul Regalbretter angebracht hatte, eins über dem anderen, bis hinauf an die Stuckverkleidung. Sie bogen sich beinahe unter ihrer skurrilen Last: alte Mikroskope, sein Arztkoffer aus Kinderzeiten, ein bauchiges Glas mit einem in Alkohol eingelegten Frosch, dem sämtliche Farbe aus dem Leib gewichen war; daneben ganze Batterien an Reagenzgläsern, Kräuterfässchen, scharfkantigen Mineralien, eine Modellbau-Dampfmaschine, zwei Stethoskope, Spritzen, eine historische Amputationssäge (ich hatte sie auf einem norwegischen Kuriositätenflohmarkt erstanden und ihm zum zwanzigsten Geburtstag geschenkt), ein in Harz gebannter Skorpion und eine respektable Sammlung medizinischer Gerätschaften und Exlebewesen, die ich mir lieber erst bei Tageslicht ansehen wollte, genauso wie die Katzenschädel, deren Augenhöhlen Paul mit getrockneten Hirschkäfern verziert hatte. Keine Frage - meine Tierchen würden sich hier pudelwohl

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