Scherbenmond
denn an Gott?«
Colin schlug die Augen nieder und fuhr sich nachdenklich über die Stirn. »Nun, glauben vielleicht nicht. Ich hoffe einfach, dass es eine höhere Macht gibt und sie mich zu ihren Geschöpfen zählt. Ich stamme aus dem neunzehnten Jahrhundert. In diesen Zeiten war Atheismus ein Luxus der Reichen. Wer zu wenig zum Leben und zu viel zum Sterben hatte, brauchte den Glauben, um weiterzukämpfen und die Schicksalsschläge anzunehmen, die das Leben ihm bescherte.«
Ich hatte den Eindruck, dass er noch etwas sagen wollte, und blieb mucksmäuschenstill. Ich hatte es geschafft, das leidige Schüler-Lehrer-Diktat zu unterbrechen, und diesen Zustand wollte ich nicht gefährden. Nach einer Weile hob er seinen Blick. Seine Augen hatten sich auf Zeitreise begeben.
»Es war ein Mann der Kirche, der meine Mutter schließlich dazu bewegte, ihr Lieblingshobby - du erinnerst dich, Babys aussetzen aufzugeben. Er sagte ihr, sie müsse ihr Kind als ein Geschenk des Herrn akzeptieren. Das tat sie zwar nicht, aber sie hörte immerhin
damit auf, mich nachts aus dem Haus zu schaffen. Unser Dorfpfarrer kämpfte eisern gegen jeden heidnischen Aberglauben. Er fürchtete mich wie die anderen, aber sein Glaube half ihm dabei, mich zu dulden. Glaube kann grausam sein. Und segensreich.«
»Wie findest du mich eigentlich?«, platzte es aus mir heraus. »Ich meine, meinen Charakter? Okay, du bist damals aus den anderen herausgestochen, keine Frage. Aber wenn ich dich über mich reden höre, habe ich den Eindruck, ich bin auch für so ziemlich alles denkbar ungeeignet.«
Colin hob fragend die Brauen, doch mir entging nicht, dass er sich bemühte, seine stille Erheiterung zu verbergen.
»Wie findest du dich denn, Ellie?«
»Na ja.« Ich grinste verlegen. »Eigentlich gar nicht so verkehrt. Ich weiß ja, warum ich bin, wie ich bin. Für mich ist es logisch. Nur glauben die anderen oft, es habe Methode. Oder halten mich gleich für durchgeknallt, weil es ... einfacher ist?« Ich sah ihn erwartungsvoll an.
»Ich bin kein Psychologe«, entgegnete Colin. »Aber es ist wohl so. Du bist sehr anstrengend und aufwühlend. In jeder Hinsicht. Aber ich möchte dich nicht anders haben. Für mich bist du so genau richtig - vorausgesetzt, du vertraust mir.«
Ich schluckte. Für ihn genau richtig. Das war ein akzeptabler Anfang.
»Zweifelst du an dir?«, fragte Colin behutsam, obwohl er die Antwort kennen musste.
»Ich zweifle daran, dass ich in diese Welt passe.« Wie du, dachte ich, doch ich traute mich nicht, es auszusprechen. »Dr. Sand - der Vertraute von Papa - sagte, ich sei eine HSP. Eine hochsensible Person. Und ich müsse mein Leben danach ausrichten.«
»Ach, wirklich?«, erwiderte Colin spöttisch. »Jetzt haben sie dafür auch eine Diagnose. Irgendwann werdet ihr Menschen nur noch aus Diagnosen statt aus Charaktereigenschaften bestehen.« Er strich sich die Haare aus der Stirn, was ebenso wirkungslos war, wie wenn ich es tat. »Brauchst du diese Diagnose?«
Ich zuckte ratlos mit den Schultern. Half es mir zu wissen, dass es einen Begriff für meine dünne Haut gab? Nein, eigentlich nicht. Denn es änderte nichts daran.
»In manchen Naturvölkern werden hypersensiblen Menschen besondere Kräfte nachgesagt. Sie haben oft die Position des Schamanen oder Heilers inne. Das, was in unserer ach so hochzivilisierten westlichen Welt angeprangert wird - nämlich ein zu intensives Fühlen -, wird dort hoch geschätzt«, versuchte ich zu rekapitulieren, was ich kürzlich in einer Zeitschrift gelesen hatte. Denn natürlich hatte ich mich über Dr. Sands Diagnose informiert, ohne dass mich dies in irgendeiner Weise hätte weiterbringen können.
»Also halte es lieber damit. Betrachte dich als Schamanin. Wobei ich zugeben muss, dass der Begriff >Hexe< am heutigen Tag besser gepasst hätte.«
Ich schniefte kurz, weil ich mich nicht zwischen Weinen und Lachen entscheiden konnte. Das Gefühl der Überforderung erschlug mich beinahe.
»Oh Gott, mein Kopf ist wieder so voll ...« Ich massierte meine Stirn, als könne ich damit meine Gedanken dazu überreden, sich aus dem Staub zu machen.
»Deshalb werden wir jetzt meditieren«, verkündete Colin und klopfte neben sich auf die Dielen. »Setz dich zu mir, im Schneidersitz. Handrücken auf die Knie.«
Nur unter Jammern und Klagen gelang es mir, meine Beine zu verschränken und den Rücken zu strecken wie Colin. Seine Wirbelsäule war kerzengerade. Niemals würde ich länger als fünf Minuten
Weitere Kostenlose Bücher