Scherbenmond
gesagt, kaum merklich genickt und das Training beendet - genau in der Sekunde, als ich das erste Mal eine scheue Freude daran empfunden hatte. Die Stunden und Tage vorher hatten aus Überwindung und Quälerei bestanden und aus nichts sonst. Kein Platz für Freude.
Am Morgen nach dem ersten Trainingstag waren meine Gelenke und Muskeln so steif und verhärtet gewesen, dass Colin mich erst einmal von oben bis unten durchmassieren musste. Es hatte unsere Enthaltsamkeit nicht ansatzweise beeinträchtigen können, denn mir rannen vor Schmerzen die Tränen hinunter, obwohl ich mir die Zunge blutig biss, um keine Schwäche zu zeigen. Doch er knetete meine Muskeln so lange, bis meine Arme und Beine wieder beweglich und dehnbar geworden waren. Ich glänzte wie eine Speckschwarte und roch durchdringend nach Kräutern, als er mir auf den Hintern klatschte und brummte: »So, nun können wir dich in den Backofen schieben und grillen.«
Doch es half. Nach den Aufwärmübungen war ich bereit zu trainieren - und daraus hatte mein Tag bestanden. Training, essen, trinken, kurz ausruhen, Training. Kaum Worte. Keine Berührungen mehr, es sei denn, Colin korrigierte meine Haltung und meine Schlagfolgen. Kein einziger Kuss. Solange wir uns im Dojo befanden - die Insel, der Sand, die Brandung -, konnte ich es hinnehmen, ohne dass mein Herz brannte.
Jetzt aber schien es mich aufzufressen. Meine Haut sehnte sich so sehr nach ihm, dass sie wehtat, und diese Pein hatte nichts mit dem Ziehen in meinen Muskeln zu tun. Ich konnte mir nicht vorstellen, Colin im Kampf zu verlieren, ohne ihn vorher noch einmal gespürt zu haben. Dass er mich nicht aus meinem Albtraum befreit hatte, machte es kaum besser.
Was hatte er nur vor mit mir? Warum hatte er mir Karate beigebracht? Das, was ich konnte, war ein Witz im Vergleich zu jenen
Kampfkünsten, die er beherrschte. Niemals, und wenn ich noch so oft und hart trainierte, würde ich auch nur in die Nähe seiner Fertigkeiten gelangen. Was also hatte es für einen Sinn, mich die Anfängerlektionen zu lehren? Mir Gürtelprüfungen abzunehmen? Ich verstand es nicht. Ich selbst würde ja wohl kaum gegen François antreten. Und davon war auch kein einziges Mal die Rede gewesen. Diente all die Anstrengung nur dazu, meinen Gehorsam zu stärken?
Ich erhob mich und trat barfuß neben Colin. Nicht einmal seine Haare bewegten sich. Sie waren in der Luft erstarrt. Die Brust hob und senkte sich nicht - kein Atem. Kein Herzschlag. Es gab kein Herz. Die Lider hatte er niedergeschlagen. Sein Mund war geschlossen, aber weich und entspannt und dennoch ... nicht menschlich. Nicht nah, nicht greifbar, auch wenn ich nur meine Hand hätte ausstrecken müssen, um ihn zu berühren. Seine weiße Haut leuchtete silbrig auf, obwohl der Mond nicht schien. Es war eine stockfinstere, kalte Nacht. Als ich ihn das letzte Mal so vorgefunden hatte - in sich versunken und entrückt zugleich -, war ein warmer Wind gegangen und die untergehende Sonne hatte bräunliche Sprenkel auf sein Gesicht gezaubert. Er hatte auf seinem Bett gelegen wie ein junger Gott und die Katzen scharten sich um ihn, als beteten sie ihn an. Ich hatte mich neben ihn gesetzt und meinen Kopf an seine Brust gelegt, um zu hören, ob er atmete.
Eigentlich wusste ich, dass er nicht atmen musste, um zu existieren. Er brauchte keinen Sauerstoff. Und doch erfüllte es mich auch jetzt mit nagender Unruhe, keine menschlichen Lebenszeichen zu finden. Würde er so aussehen, wenn François ihm den Todesstoß versetzt hatte? Oder würde er Colin zerfleischen? Jenes Antlitz zerstören, das so vielen Menschen Schrecken einjagte und das ich so sehr liebte? Kühn, unnahbar und doch vertraut. Sein dunkles, glänzendes Schlangenhaar, das nun bis auf die Schultern fiel und sich, bevor es sich der Meditation fügen musste, gegen das Zopfband gewehrt hatte. Die langen, gebogenen Wimpern. Das Schattenspiel, das seine markanten Wangenknochen auf die schneeweiße Haut warfen. Ich musste es festhalten - all das. Wenn ich es nicht tat, würde es niemand tun. Es gab niemanden außer mir, der dieses Wesen liebte. Tessa wollte ihn besitzen und formen. Mit Liebe hatte das nichts zu tun.
Ich riss mich von seinem Anblick los und ließ meine Blicke über den Schreibtisch wandern. Die erkaltende Glut aus dem Ofen spendete nur noch ein schwaches rötliches Leuchten, doch es würde ausreichen, um meine eigenen Striche erkennen zu können. Da, ein Block und ein Bleistift - mehr brauchte ich nicht. Ich
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