Scherbenmond
nicht jene Art von Forschergeist, die hier erwünscht war.
»Soll ich mir was überziehen?«, fragte ich scheu.
»Das wäre schade, aber sinnvoll.« Colin warf mir meine Klamotten zu, ließ seinen Kimono jedoch an. Ich benötigte ungefähr eine Viertelstunde, mich aufzurichten, in mein Hemdchen und den Pulli zu schlüpfen und die Hose überzuziehen, weil ich vor Schmerzen immer wieder Pausen machen musste. Colin nutzte die Zeit, um sich pfeifend an den kleinen Herd zu stellen, Kartoffeln zu schälen, in kochendes Wasser zu werfen und mir einen Fisch zu braten. Auch Miss X bekam ihren Anteil. Nur Colin ging leer aus, ließ es sich aber nicht nehmen, mit Kennermiene zu probieren, um sicherzugehen, dass die Mahlzeit auch genießbar war. Und oh ja, das war sie. Ich war so ausgehungert, dass ich sie binnen weniger Minuten hinunterschlang, danach zufrieden die Augen schloss und mich zurücklehnte. Ich hörte dabei zu, wie Colin den Teller spülte und eine Flasche Wasser neben mich stellte. Dann kehrte Ruhe ein.
Machte es Sinn, mich schlafend zu stellen? Nein. Nicht im Geringsten. Vor mir saß ein Nachtmahr. Mit einem Seufzer, der meine verschiedenen Plagen unmissverständlich zum Ausdruck brachte, öffnete ich meine Augen und sah meine Hauptplage an. Colin hockte im Schneidersitz auf den Dielen, nach wie vor im Kimono und nach wie vor mein Herr und Meister. Sensei Sir Blackburn.
»Wir sind noch nicht fertig, Ellie.«
»Ich weiß«, sagte ich leidend und schickte einen weiteren Seufzer hinterher. »Dann erzähl mir mal was von Bushido.«
Die fünf Hauptforderungen
»Bushido ist die Philosophie des Samurai und beschreibt sein Verhältnis gegenüber seinem Herrscher«, begann Colin mit ruhiger Stimme.
»Soll ich vielleicht mitschreiben?«, fragte ich aufsässig. »Werde ich nachher abgehört?«
Er ging nicht darauf ein, sondern fuhr fort, als habe ich gar nichts gesagt.
»Entscheidend sind die fünf Hauptforderungen Treue, Höflichkeit, Tapferkeit, Aufrichtigkeit, Einfachheit. Die wichtigsten für dich sind die ersten beiden Forderungen. Treue und Höflichkeit. Daran mangelt es dir noch.«
»Mir mangelt es an Treue?«, brauste ich auf. »Ich bin dir in den Kampf mit Tessa gefolgt! Wie viel Treue willst du denn noch?«
»Treue bedeutet im Bushido Treue gegenüber seinem Herrscher, Treue zu dir selbst und Fleiß - zusammengefasst: Loyalität. Höflichkeit bedeutet Liebe, Bescheidenheit, Etikette. Bevor du weiterzeterst: Ich spreche von diesen Eigenschaften innerhalb des kriegerischen Weges. Wir haben einen kriegerischen Weg vor uns, Ellie. Hier geht es nicht um Trotzspielchen oder Emanzipation. Es geht um bedingungslosen Gehorsam. Um absolute Treue gegenüber deinem Sensei.« Colin warf mir einen strengen Blick zu, der in mir den Wunsch weckte, aufzustehen und davonzustürmen. Ich fühlte meine Halsstarrigkeit am ganzen Leib.
»Und das bist du, nicht wahr? Mein Sensei. Ich soll dir gehorchen?«
»Innerhalb des Kampfes, ja. Du musst lernen, mich zu respektieren und mir in dem zu vertrauen, was ich von dir verlange. Bisher tust du das nicht. Du denkst, es geht um Machtspielchen. Doch die liegen mir fern.«
Wie konnte er nur so gelassen bleiben? Sah er nicht, dass er mich bis aufs Blut reizte?
»Wo ist denn da bitte der Unterschied? Blinder Gehorsam ist ... das ist Bullshit! Ich unterwerfe mich keinem blinden Gehorsam! Ich bin nicht deine Marionette.«
»Es ist dann Mist, wenn der Herrscher diesen Gehorsam für seine niederen Interessen ausnutzt«, erläuterte Colin geduldig. »Doch auch er ist den fünf Hauptforderungen verpflichtet. Du kannst davon ausgehen, dass ich deine Treue und deinen Gehorsam nicht für meine Zwecke missbrauchen werde.«
»Colin, ich verstehe das nicht! Du redest von Gehorsam, von Unterwerfen - dabei machst du doch auch immer, was du willst! Du unterwirfst dich niemals irgendwelchen Regeln. Und jetzt erwartest du es von mir?«, rief ich erzürnt.
»Innerhalb des Dojo unterwerfe ich mich sehr wohl den Regeln. Ich habe nie behauptet, dass es mir leichtfällt. Ich habe dir schon einmal erzählt, wie hart das Training in China war. Aber ich wurde dabei behandelt wie jeder andere Schüler. Mein Sensei wusste genau, dass ich kein Mensch bin, dass in mir dämonische Kräfte lauern. Und doch hat er Gerechtigkeit walten lassen. Er ahnte, dass ich Karate mache, um das Gute in mir zu wecken und zu bewahren. Noch nie wurde mir so viel Achtung entgegengebracht wie in diesen Monaten, obwohl ich ebenso
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