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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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konnte es immerhin versuchen. Für dieses Bild benötigte ich keine Fantasie. Ich musste sein Gesicht nur abzeichnen. Ich musste lediglich genau hinsehen und das, was ich sah, in die Spitze des Stifts übertragen. Es war besser als nichts.
    Ich setzte mich auf den Stuhl, nahm den Block auf meine Knie und konnte mich nicht überwinden, den ersten Strich zu setzen. Ich hatte das noch nie gekonnt, einfach draufloszeichnen wie meine Klassenkameraden. Mit einem Schmunzeln erinnerte ich mich an meinen Kunstlehrer, der regelmäßig an dem Umstand verzweifelt war, dass ich hervorragend Bilder interpretieren, aber nicht malen konnte. Zumindest nicht so, wie er sich das vorstellte - bis er eines Tages seinen alten Kassettenrekorder auf mein Pult stellte und auf Play drückte. Diese Sonderbehandlung hatte mir mal wieder missgünstige Blicke und giftige Tuscheleien eingebracht, aber sie hatte Wirkung gezeigt. Meine Bilder blühten immer noch nicht vor Fantasie, doch immerhin hatte ich meinen Kopf ein klein wenig abschalten können, wenn ich der Musik lauschte.
    Vielleicht würde das auch jetzt helfen. Auf Colin musste ich dabei keine Rücksicht nehmen. Er hörte und sah nichts mehr. Und selbst wenn - stören würde es ihn nicht. Ich hatte noch nie ein Wesen gesehen, das sich bedingungsloser seines Körpers entledigen konnte als er. Was ich hier tat, interessierte ihn nicht mehr. Meine albtraumhaften Hilferufe hatte er schließlich auch nicht wahrgenommen.
    Ich trat zu seinem Plattenspieler und zog spontan eine Maxisingle aus dem Stapel neben dem altertümlichen Apparat. Moments in Love von Art of Noise.
    »Wie passend«, flüsterte ich zynisch, brachte den Plattenteller zum Rotieren, stellte ihn auf 45 und ließ den Saphir sanft heruntergleiten.
    Schon bei den ersten Takten schlug mein Zynismus in Hilflosigkeit um. Ja, mein Bleistift bewegte sich, er zeichnete, aber er scheiterte an jeder Strähne, jedem Fältchen, jeder Linie - und vor allem an dem, was ich am meisten liebte. Seinem Mund und seinen Augen. Das hier wurde allenfalls ein Gesicht, das Colin ähnlich sah. Aber es war nicht seines. Verbissen vollendete ich die Skizze und setzte das Datum darunter, während die ersten Tränen das Papier zu wellen begannen.
    Ich hatte es nicht geschafft. Die Skizze würde mir vielleicht helfen, ihn im Gedächtnis zu behalten, für ein paar Wochen. Aber dann war es nur noch eine Zeichnung, die kaum etwas mit Colin zu tun hatte. Sein Zauber war nicht auf Papier zu bannen. Er umgab ihn. Er war nicht zu fassen, mit keiner technischen Finesse dieser Welt. Ich würde ihn verlieren, vollkommen verlieren, wenn wir im Kampf versagten - einem Kampf, von dem ich nichts wusste und dessen Strategien er vor mir verborgen hielt.
    Ich knüllte die Zeichnung zusammen und warf sie auf den Boden, ließ die Musik jedoch laufen. Ich konnte sie nicht unterbrechen. Sie hatte einen Sog, dem ich nicht entrinnen wollte. In den ersten Sequenzen zu einfach und zu weich, fast oberflächlich, aber dann
    immer betörender und magischer. Klangkunst. Sie brachte mich dazu, unsere Tugenden zu brechen.
    Ich setzte mich hinter Colin auf den Boden, legte meine Arme um seinen Bauch und bettete meine Wange an seinen kühlen Rücken. Für einen Sekundenbruchteil spürte ich, dass sein Körper mich erkannte und meine Berührungen nicht abwies, sondern erwiderte. Ich sah seine Hände auf meiner Haut, fühlte ihn in mir, hörte sein leises Stöhnen und sein Flüstern. Worte, die ich nie vergessen würde, obwohl ich sie nicht verstanden hatte. Dann beruhigte sich das Rauschen in seinen Venen und der Mann vor mir war nur noch ein Fels, dem keine Seele mehr innewohnte.
    Ich küsste ihn auf seinen kalten Nacken, spielte die Platte von Neuem ab und ließ mich von ihren immer gleichen Melodiefolgen in den Schlaf wiegen.
    Wir begannen den nächsten Morgen wortlos. Ich ging hinunter an den Strand und bereitete mich auf meinen Prüfungen vor; Colin schritt ins Meer, um zu jagen. In den sonnigen, verträumten Nachmittagsstunden packte ich meine Siebensachen zusammen und versuchte, mir das Innere der Hütte einzuprägen. Denn ich wusste genau, dass ich sie nicht Wiedersehen würde. Die Vogelwartin würde bald gesund sein und endlich ihren Job antreten. Nielsen pflegte seinen samstäglichen Klönschnack, durfte Lebensmittel nach Trischen karren und die Möwen und Seehunde und Brutvögel wurden ordnungsgemäß gezählt. Alles wie gehabt.
    Niemand würde wissen, was diese Hütte und diese

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