Scherbenmond
in dieser Haltung sitzen bleiben können. Doch ich versuchte es, versuchte, seinen Anweisungen zu folgen, mich dabei nicht in seiner hypnotischen Stimme zu verlieren, keine Gedanken und Gefühle zuzulassen. Aber noch immer bemächtigten sich die Ereignisse der vergangenen Stunde meines Inneren und ich konnte nichts dagegen ausrichten. Ich scheiterte bereits nach wenigen Minuten und gab entmutigt auf, während Colin schweigend in eine Welt abtauchte, die mir verschlossen blieb.
Stumm saß ich neben ihm und sah ihm zu, bis ich begriff, dass ich für ihn nicht mehr existierte. Für einen zeitlosen Moment überließ ich mich meiner bleiernen Müdigkeit und nickte an Ort und Stelle ein. Erst das Schnurren von Miss X, die ihren zarten, flauschigen Leib gegen meine Knöchel schmiegte und an meinen Zehen zu knabbern begann, ließ mich aus dem Halbschlaf hochschrecken. Ich griff unter ihren Bauch, um sie mit ins Bett zu nehmen, kuschelte mich in die nach Colin duftende Decke und umschlang mich selbst, um nicht zu frieren.
Ich vermisste ihn die ganze Nacht.
Die dritte Nacht
Ein pfeifender Windstoß weckte mich. Ich hatte mich gerade erst hingelegt, um mich auszuruhen, meinen Muskeln Entspannung zu gönnen, doch draußen tobte ein Sturm, urplötzlich und mit aller Macht, obwohl die Sonne grell auf mein Bett schien und die Temperatur im Zimmer sekündlich anstieg. Paul und Tillmann waren noch unterwegs, mussten aber jeden Moment zurück sein.
Wieder fuhr eine Böe durch das gekippte Fenster und ich stand auf. Ich musste es schließen. Als ich meinen Arm ausstreckte, um den Griff zu packen, drückte der Wind mir die bodenlangen Vorhangschals ins Gesicht.
Ich versuchte sie wegzuziehen, doch der Sturm verdoppelte seine Kraft und wickelte den Stoff um mich herum. Ich konnte nichts mehr sehen. Beim nächsten Windstoß wand er sich auch um meine Hände, mit denen ich doch gerade erst meinen Mund befreien wollte. Je mehr ich zerrte und zog, um den Vorhang von ihnen zu lösen, desto fester schlang sich der Stoff um meine Fäuste. Der Sauerstoff wurde knapp und die Hitze schier unerträglich. Noch einmal bog ich meine Finger, um sie aus meinen Fesseln zu ziehen. Vergebens.
Ich hatte nur eine Chance - ich musste schreien und hoffen, dass Paul und Tillmann bereits in der Nähe waren und mich hörten. Aber auch das gelang nicht. Die Hitze schwächte mich. Mein Bewusstsein wurde schwammig. Bitte, bitte kommt nach Hause. Bitte, flehte ich, ich kann nicht mehr atmen. Ihr müsst mich befreien ...
»Bitte«, keuchte ich und rang nach Luft. Ich lag wie gelähmt auf Colins Bett, die Decke weggestrampelt, weit und breit keine Stoffbahnen, die sich in meine Mundhöhle blähten, wenn ich einatmete. Ich war vollkommen frei.
Dennoch brauchte ich mehrere Atemzüge, bis die Panik nachließ. Mein Nacken war schweißnass, mein Mund ausgetrocknet, die Zunge klebte mir am Gaumen. Ich ließ meinen Kopf zur Seite fallen.
Warum hast du mich nicht geweckt?, dachte ich in stummer Anklage. Nein, dieses Mal hatte Colin mich nicht herausgezogen. Wie die vergangenen beiden Nächte saß er mit dem Rücken zu mir im Schneidersitz auf dem Boden, als hätte es mich nie gegeben. Ich war weniger als Luft. Und es war unsere letzte Nacht.
Morgen würde er mich wieder nach Hause schicken und es war ungewiss, ob wir unsere nächste Begegnung mit dem Leben bezahlen oder überstehen würden. Vorher aber musste ich meine ersten beiden Gürtelprüfungen ablegen. Im Geiste ging ich kurz die Kata für den Gelbgurt durch - eine Art Schattentanz, längst nicht so elegant und eindrucksvoll wie jene Kata, die Colin beherrschte. Wir hatten meine beiden immer wieder gemeinsam geübt und es hatte mich maßlos deprimiert, wie groß die Unterschiede zwischen unseren Bewegungen blieben, obwohl wir doch genau das Gleiche taten. Colin vollführte sie mit einer atemberaubenden Dynamik - er fühlte, was er tat, er sah es vor sich, während ich anfangs unbeholfen hinter ihm herdackelte und nur darauf bedacht war, keinen Fehler zu machen. Ich war dankbar gewesen, mir die Schrittfolgen korrekt merken zu können, und zugleich entmutigt, weil das allein nicht einmal ein Abglanz von dem war, was Karate bedeutete.
Gestern Abend allerdings, kurz vor Sonnenuntergang, hatte ich zu schweben geglaubt, hatte ich nicht mehr nachdenken müssen. Die Schrittwechsel wirkten flüssiger, weicher, mein Kampfschrei war echt und eine Notwendigkeit gewesen, keine Show.
»Du bist so weit«, hatte Colin
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