Scherbenmond
wenn Giannas Computer piepsend die Ankunft einer neuen E-Mail verkündete, flüchtete sie ohne Vorwarnung aus der Küche und sah nach, wer ihr geschrieben hatte. Dennoch gelang es mir, ihr trotz der leidigen Unterbrechungen klarzumachen, was ein Wandelgänger war, warum sie keinen Kontakt zu Paul aufnehmen durfte und sie in den kommenden Tagen besser in ihrer Wohnung bleiben sollte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, doch sie schluckte sie mit eiserner Disziplin hinunter - und dazu den letzten Bissen Pizza.
»Ich hab noch keine Lust zu sterben, Elisa. Die vergangenen acht Jahre waren absolut kacke für mich. Wirklich, ich will nicht. Das kann nicht alles gewesen sein. Hat Colin dich denn irgendwie auf den Kampf vorbereitet? Weißt du, was passieren wird?«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung. Er hat mir Karate beigebracht - na ja, er hat es versucht. Ich hab jetzt den gelben Gürtel. Das ist gar nichts.«
»Moment - du warst doch nur ein paar Tage dort...«, unterbrach Gianna mich skeptisch.
»Ja. Ich sag auch nicht, dass es ein Vergnügen war. Mir tut alles weh.«
»Also kein Liebesurlaub«, grinste sie schwach.
»Na ja«, nuschelte ich ausweichend und merkte, dass ich rot wurde. »Das auch. Ein bisschen. Und ich werde dir keine Details verraten.«
Gianna verzog den Mund. »Schade. Dann bist du jetzt eine Kampfmaschine?«
»Allerhöchstens ein Maschinchen. Der echte Zweikampf beginnt erst ab dem fünften Gürtelgrad. Ich hab keine Ahnung, was das sollte. Ich muss auch weiterhin trainieren, bei einem anderen Sensei, hier in Hamburg. Angeblich soll ich beim Training lernen, Colin zu gehorchen und ihm blind zu vertrauen.«
»Ihm zu gehorchen?« Giannas Zeigefinger schnellte durch die Luft. »Oh bitte, Elisa, das hast du nicht nötig. Gehorchen. Pah! Was bilden sich die Männer überhaupt ein? Tu das bloß nicht! Und im Bett lässt er bestimmt auch den Dominanten raushängen ...«
»Nicht ganz«, widersprach ich leise, schaute sie aber nicht an. »Er war gefesselt. Nicht ich.«
Giannas Zeigefinger verlor abrupt an Fahrt und sie verstummte erstaunt.
»Es wäre sonst zu gefährlich geworden«, schwindelte ich. »Aber das ist jetzt nicht wichtig. Wie schon erwähnt - wir müssen Vorbereitungen treffen. Wenn François sehr viel älter als Colin ist, hat es sowieso keinen Sinn.«
Zehn Jahre mehr seien okay, hatte Colin mir eingebläut. Zwanzig mehr ein echtes Risiko. Fünfzig mehr, und er hatte keine Chance. Erst da war mir bewusst geworden, welche Macht Tessa besitzen musste. Und doch hatte Colin sie für eine Weile in Schach halten können.
»Wir müssen bei François einbrechen und herausfinden, wie alt er ist. Dazu brauche ich deine Hilfe.«
»Gut«, sagte Gianna rasch. Vielleicht genoss sie den Gedanken, François gegenüber etwas Unrechtes zu tun. »Von mir aus. Solange dieses Ekel auf dem Schiff ist, bin ich dabei. Ich möchte mich ja nicht drücken.« Gianna bekreuzigte sich wieder. »Doch anschließend bin ich weg vom Fenster. Ich will nicht sterben.«
»Jetzt sei kein Spielverderber, Gianna. Ja, wenn die beiden zurück an Land sind, solltest du in deiner Wohnung bleiben und nicht einmal an Paul denken. Einverstanden?«
Und ich habe auch schon eine Vorstellung, wie das funktionieren könnte, dachte ich mit diebischer Genugtuung. Die Idee war mir auf der Fahrt hierher gekommen und sie war gar nicht übel. Ich liebte es, zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen zu können.
»Aber danach ...« Ich musste eine Pause einlegen, um zu Atem zu gelangen. Gianna zwirbelte nervös ihre Haare. »Danach müssen wir Paul glücklich machen. Wenn er glücklich ist, ist er für François am leckersten. Wir locken ihn damit an und Colin kann den Kampf eröffnen. So hab ich das jedenfalls verstanden. Wir müssen Paul an einem einzigen Abend glücklich machen, innerhalb weniger Stunden.« Dann stirbt wenigstens einer glücklich, dachte ich schicksalsergeben.
Gianna begann zu strahlen. »Aber das ist doch wunderbar! Oh, ich liebe es, Menschen glücklich zu machen! Das kann man organisieren, ich kann alles Notwendige recherchieren ... Gib mir zwei Stunden in seiner Wohnung und ich weiß, was er mag und was nicht.«
»Gianna, so einfach ist das nicht. Paul hat sich durch den Befall verändert.«
»Hältst du mich für doof? Ich kann zwischen den Zeilen lesen, zwischen den Dingen erspüren, was ihm gefällt ... Es sind außerdem nicht die großen Sachen, die Menschen glücklich machen. Es sind die kleinen. Ein gutes
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