Scherbenmond
okay?«, fragte Gianna, nachdem sie ihr Auto auf höchst Furcht einflößende Weise in eine Parklücke gequetscht und den Motor abgestellt hatte. Nun waren wir also da. Im Schanzenviertel. François´ Kernrevier.
»Hmgrmpf«, brummelte ich, zog den Reißverschluss meiner schwarzen Kapuzenjacke höher und vermied es, Gianna anzusehen. Mir war immer noch unangenehm, was heute Morgen passiert war, und das Karatetraining hatte meine miese Stimmung eher verschlechtert als verbessert.
Ich konnte nicht sagen, was genau in mich gefahren war, ob es ein Traum oder echte, direkte Gefühle gewesen waren, die mich dazu gebracht hatten, mit geschlossenen Augen, aber äußerst lebendig in Giannas Wohnzimmer zu randalieren. Ich erinnerte mich sehr wohl daran, was ich geträumt hatte. Die Bilder waren nach wie vor zum Greifen nahe.
Gianna hatte sich in meinem Traum an Colin herangemacht. Oder umgekehrt? Jedenfalls fand ich die beiden, wie sie ineinander verschlungen am Fenster lehnten, küssend und fummelnd, und mich ansahen, als wäre ich ein kleines, blödes Kind - ja, sie schauten etwas mitleidig und auch belustigt, aber nicht ansatzweise schuldbewusst.
Dann kamen Tillmann und Paul dazu und auch sie konnten nichts Schlimmes an dieser neuen Liebschaft finden. Stattdessen legten sie mir mit Besserwissermiene nahe, dass ich aufhören solle, meinen Mädchenträumereien nachzuhängen - es wäre doch klar gewesen, dass Gianna für Colin bestimmt sei und umgekehrt, das mit mir wäre nur eine Spielerei gewesen, nichts Bedeutsames. Nur ich hätte wieder ein Riesending draus gemacht. So wie ich es eben immer tun würde. Das läge aber an mir und nicht an Colin.
Ich heulte und tobte und schrie, doch die anderen hörten mich gar nicht mehr. Egal, wie ich mich anstrengte und brüllte, niemand reagierte auf mich. Ich wollte Colin schlagen und treten, aber ich schaffte es nicht einmal, mein Knie anzuheben oder gar Schwung zu holen. Und meine Stimme blieb viel zu leise. Trotzdem zerstörte ich, was ich zerstören konnte und zwischen meine kraftlosen Finger bekam, um auf mich aufmerksam zu machen.
»Warum hast du sie mir nicht zurückgegeben? Du hast Wale beraubt, du warst satt wie nie, aber du hast sie mir nicht zurückgegeben! Ich brauche sie doch! Gib sie mir zurück!«
In diesem Zustand hatte Gianna mich gefunden. Ich hatte mich schreiend auf ihrem Boden gewunden wie ein Fisch auf dem Trockenen, zwischen den Scherben des Topfes ihrer ohnehin lebensmüden Yuccapalme, CDs, die ich aus dem Schrank gerissen hatte, Büchern und meiner Decke. Ich war erst zu mir gekommen, als sie
• mir kaltes Wasser über den Kopf geschüttet hatte. Und das Erste, was ich sah, war Rufus, der völlig traumatisiert unter dem Sofa klebte und mich anschaute, als wäre ich eine Ausgeburt der Hölle.
Mein Gebaren war mir so peinlich gewesen, dass ich kaum mehr ein Wort mit Gianna wechselte, auf das Frühstück verzichtete und mit der S-Bahn in die Speicherstadt fuhr. Der verdammte Volvo stand immer noch auf dem Hafenparkplatz, für dessen Gebühren ich inzwischen beinahe Urlaub hätte machen können. Ich holte ihn nachmittags, um den Schlüssel aus der Galerie zu stibitzen und zum Training zu fahren. Meine Wut hatte sich immer noch nicht abgekühlt, obwohl ich natürlich genau wusste, dass Colin und Gianna kein Verhältnis hatten. Doch dieses Wissen hatte keinerlei Einfluss auf meinen Zorn. Das war es, was mich so aus dem Konzept brachte. Die Gefühle waren echt gewesen. Kein Traum.
»Kannst du mir nicht wenigstens sagen, was er dir zurückgeben sollte? Deine Jungfräulichkeit kann ja nicht gemeint gewesen sein, oder?«, hakte Gianna kichernd nach und presste die Lippen zusammen, als sie sah, dass ich ihre spitze Bemerkung nicht im Geringsten komisch fand.
»Meine Erinnerung. Es ging um meine Kindheitserinnerung«, antwortete ich kalt.
»Was war das denn für eine Erinnerung?«
»Mensch, Gianna, er hat sie mir geraubt! Wenn einem eine Erinnerung geraubt wurde, kann man sich an die Erinnerung nicht mehr erinnern. Das liegt in der Natur der Sache, oder?«, brauste ich auf.
»Klingt logisch«, stimmte Gianna mir zu. »Scusa. Rufus ist aber wieder ganz der Alte. Und die Yuccapalme war sowieso vertrocknet. Sie braucht ihren Topf nicht. Ich habe langsam den Verdacht, dass meine Zimmerpflanzen rituellen Suizid begehen. Rufus akzeptiert ihre spitzen Blätter nicht. Jedes spitze Blatt wird gnadenlos abgeknabbert ...«
»Ist gut, Gianna. Ich bin nicht sauer auf
Weitere Kostenlose Bücher