Scherbenmond
Gebrüll. Es hörte sich an, als wolle sie mithilfe dieses Gezeters den Teufel austreiben, und erinnerte mich entfernt an Pauls frühere klangtechnische Kostbarkeiten.
»Oh«, machte Colin mit Kennermiene. »Painkiller:«
»Was ist das für Musik?«, fragte ich rätselnd. Eigentlich konnte man es gar nicht als Musik bezeichnen. Es musste Gianna das Trommelfell zerfetzen.
»Judas Priest. Guter, alter Achtziger-Metal. Sie hat Angst, Ellie. Sie spürt mich schon. Bleib hier sitzen.«
Ich löste meinen Gurt, verharrte jedoch auf dem Beifahrerplatz, als Colin den Volvo verließ und Gianna ein paar Meter entgegenschlenderte. Er erinnerte mich dabei an einen Leitwolf, der sich seinem Rivalen nähert und witternd prüft, ob er ihn besiegen kann. Er checkte sie ab.
Dann blieb er stehen und ich war überzeugt, dass er ihr direkt in die Augen sah. Bis hinab in ihre Seele. Arme Gianna. Ich rechnete damit, dass sie den Motor anwarf, das Auto wendete und floh, doch das Geschrei und Getrommel dröhnte weiterhin aus ihrem Wagen und sie regte sich nicht. Selbst von hier aus konnte ich sehen, dass sich ihre Finger um das Lenkrad krallten und sie ihre Schultern fast bis zu den Ohren hochgezogen hatte. Alleine beim Zuschauen begann mein Nacken zu schmerzen und dem war es durch das viele
Training heute besser gegangen denn je. Es kam mir fast so vor, als hätten sich bei den Kata jahrelange Blockaden gelöst.
Gianna jedenfalls hatte Grund genug, über einen baldigen Besuch beim Chiropraktiker nachzudenken. Ich atmete auf, als Colin sich umdrehte und zu mir zurückkehrte. Seufzend setzte er sich neben mich und fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht.
»Oh Gott«, murmelte er. »Noch eine Bekloppte.« Seine Mundwinkel kräuselten sich, als er sich mir zuwandte. »Sie ist vertrauenswürdig. Glück gehabt. Ein bisschen neurotisch, aber zäh und mindestens so neugierig wie du. Ihr müsst nur aufpassen, dass sie nicht eigenmächtig zu agieren beginnt. Sie ist sehr spontan, reflektiert weniger als du. Aber das kann auch eine Stärke sein. Und Illusionen gibt sie sich schon lange nicht mehr hin. Halte dich an sie. Und an Tillmann. Ihm traue ich zu, dass er es schafft, seinen Geist frei zu räumen - mit welchen Mitteln auch immer.« Im Moment tat er das wohl vor allem in seiner Funktion als Hengst und Begatter.
»Okay, Herr Doktor. Dann lass es uns hinter uns bringen«, sagte ich tapfer.
Er berührte sacht mein Knie, doch es genügte, um mir einen kleinen Stromstoß durch den Körper zu jagen. Ich begann zu zittern. Ein letztes Mal zählte er mir auf, was ich zu tun hatte. So bald wie möglich bei François einbrechen, zusammen mit Gianna, damit wir schneller seine Sachen durchforsten konnten und weil Gianna in Geschichte besser bewandert war als ich und weil zwei weibliche Duftnoten für Verwirrung sorgten. Pauls Glückstag planen. Einen Termin festsetzen - nicht früher, aber auch nicht viel später als in zweieinhalb Wochen. Colin einen Brief nach Trischen schicken.
Colin richtete seinen Blick aus dem Fenster. »Ich werde auf der Insel bleiben, bis der Kampf beginnt. Denk an das, was ich dir über das bedingungslose Vertrauen gesagt habe. Dein erstes Training findet morgen statt. Du wirst vieles nicht verstehen, was in Zukunft passiert, doch du darfst es nicht hinterfragen. Du musst es annehmen. Jedes zu angestrengte Nachdenken könnte François auf unsere Fährte locken. Hast du das verstanden?«
Ich nickte. Colin öffnete die Wagentür und stieg zusammen mit mir aus. Ich zitterte nun so sehr, dass ich die Tasche kaum halten konnte und mir die Tüten mit dem verfluchten Kimono zweimal aus den Händen glitten.
Colin nahm mein Gesicht in seine Hände und drückte seine Stirn sanft gegen meine. Ich wagte nicht, mich zu rühren.
»Begegne mir in deinen Träumen. Und fürchte mich, wenn du wach bist«, drang seine reine, klare Stimme in meinen Kopf. Und alles um mich herum verlor seine Konturen.
Ich kam erst wieder zu mir, als Colin verschwunden war und das Gebrüll aus Giannas Auto den Nebel in meinem Kopf zu lichten begann. Es regnete in Strömen. Meine Haare klebten klitschnass an meinen Wangen. Bei jedem Schritt, mit dem ich mich zu Gianna schleppte, quietschte das Wasser in meinen Schuhen.
Die Beifahrertür stand offen. Ich schob mich neben Gianna. Noch immer klammerte sie sich an das Lenkrad, den Rücken krumm, den Hals eingezogen. Die Musik war so laut, dass meine Ohren vibrierten. Ich griff nach vorne und schaltete
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