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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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Gianna würde mit vierzig schwerhörig sein, wenn sie so weitermachte, doch sie begann bereits mitzusingen, und wieder einmal konnte ich nur staunend danebensitzen und sie begaffen.
    Sie schüttelte die Haare, trommelte auf das Lenkrad, ließ die Hüfte grooven und hätte dabei durch und durch geistesgestört gewirkt, wenn sie nicht gesungen hätte, als habe sie ihr Lebtag nichts anderes getan. Nachdem ich ihr eine Weile mit offenem Mund zugesehen hatte, fingen meine Knie an, sich aus ihrer Betäubung zu lösen, und schließlich legte auch ich einen Eins-a-Sitztanz hin. Als der Song verklungen war, kicherte ich ebenso hemmungslos wie Gianna. Sie strich sich die feinen Haare aus ihrem erhitzten Gesicht.
    »So. Dieser Ohrwurm wird uns die nächsten Stunden verfolgen und uns Mut spenden, wenn wir ihn brauchen.«
    Wir stiegen aus und ließen behutsam die Türen zuklappen, obwohl unser kleiner Musikausflug wahrscheinlich sowieso zwei Straßen weiter noch zu hören gewesen war.
    »Hier?« Ich blickte mich zweifelnd um. Das sah nicht nach einer Gegend aus, in der ich François vermutet hätte.
    »Natürlich nicht.« Gianna schnürte sich ihren dunklen und viel zu großen Parka zu. Wie ich hatte sie nur schwarze und graue Klamotten angezogen - und zwar Klamotten, die nicht uns gehörten. Damit wir keine verdächtigen Duftmarken verteilten, trugen wir abgelegte Arbeitskleidung von Paul. Denn Pauls Geruchsspuren würden François kaum auffallen. Ich fragte mich, ob Gianna wie ich auf Unterwäsche und jegliche Kosmetik verzichtet hatte, doch sie war mit den Gedanken noch beim Auto.
    »Regel Nummer 1: Niemals den Fluchtwagen direkt am Tatort parken. Regel Nummer 2: Unauffälligkeit. Wir schlendern plaudernd, aber zielstrebig dem Tatort entgegen, als wäre die Wohnung unsere. Wir sehen uns nicht um, legen keine Pausen ein, lauschen nicht, ob jemand hinter uns ist.«
    Das taten wir, doch als wir nach zwei Blocks das richtige Haus erreicht hatten und ins oberste Stockwerk gefahren waren, war Gianna diejenige, die Fracksausen bekam und die Nerven verlor.
    »Ich kann das nicht machen. Das geht nicht. Ich kann das nicht. Wenn uns jemand erwischt, kann ich meine Karriere vergessen!«
    »Was für eine Karriere?«, zischte ich. »Du hast nie Zeit, weil du ständig irgendeine Scheiße schreiben musst, und trotzdem kein Geld.«
    »Tja, tut mir leid, dass ich nicht bis mittags schlafen und dann auf meinem Goldtellerchen mein Lachscarpaccio verspeisen kann, bevor ich mal mit dem rechten Zeh wackle«, giftete Gianna zurück. »Geld ist bei euch kein Problem, was? Ich wette, du hast noch nie in deinem Leben gearbeitet. Arzttöchterchen!«
    »Ach, ich soll auch noch Geldprobleme haben? Komisch, ich dachte, es reicht, dass mein Vater verschollen ist, mein Freund ein Dämon und ich meinem Bruder beim Sterben Zusehen darf. Abgesehen davon finde ich Pauls Geschirr auch scheußlich.«
    »Ja, aber ...« Gianna setzte eine wichtige Miene auf und stemmte betont tuntig die linke Hand in die Seite. »Du weißt doch. Diese Serie gibt es nicht mehr.«
    Also hatte Paul es ihr auch schon gepredigt. Wenn er erst vor François sicher war, würde er sich für seinen Geschirrwahn in Grund und Boden schämen. Zu Recht.
    »Allein deshalb müssen wir es tun. Wir müssen ihn von diesem Geschirr befreien.« Ich gab ihr ein Paar Handschuhe und zog meines über. Wir durften auf keinen Fall Fingerabdrücke hinterlassen.
    Dann steckte ich den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um.
    Mit einem dezenten Klacken sprang die Tür auf. Wir schoben uns hindurch - mehr panisch als unauffällig, obwohl in dem frisch renovierten Treppenhaus Totenstille herrschte und François’ Wohnung die einzige auf der oberen Etage war - und ich knipste das Licht an. Vor uns lag ein weitläufiges Loft mit hohen Fenstern und exklusiven Designermöbeln. Weiße Ledersofas auf einem schwarzen Flauschteppich, schwere Glastische, eine offene Küche mit allerlei Schnickschnack, sorgsam aufeinandergestapelte Kunstbildbände, ein riesiger Flatbildschirm mit Surroundanlage, künstliche Palmen, eine Bar und einer dieser eiförmigen Sessel, die ich bisher nur aus dem Fernsehen kannte.
    »Ich dachte, so etwas gibt es nur in Katalogen«, raunte Gianna. »Ich krieg ja schon Komplexe, wenn ich durch die Musterwohnungen bei Ikea laufe. Aber das ... «
    »Nur keine falsche Ehrfurcht«, holte ich sie aus ihrer feierlichen Trance zurück. »Hier haust ein Mahr. Normalerweise«, fügte ich beschwichtigend hinzu,

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