Scherbenmond
François. Aber zwei Jahre waren zwei Jahre. Zwei Jahre weniger Kraft für François. Vielleicht war dieser Vorsprung genau das Quäntchen, das die Sache letztendlich entschied.
Und wenn ich schrieb, François sei fünfundvierzig Jahre älter, klang es schon wesentlich besser. Gut, ich unterschlug drei Jahre. Falls es schiefging, musste ich mich anschließend mit dem Gedanken herumplagen, Colin wissentlich in den Tod geschickt zu haben - es sei denn, François schlachtete uns gleich alle ab. Dann war es sowieso egal. Trotzdem. Achtundvierzig Jahre waren keine fünfzig Jahre. Und
wenn ich fünfundvierzig daraus machte, fiel es Colin leichter, sich dem Kampf zu stellen.
»François ist fünfundvierzig Jahre älter als Du. Und er hat vermutlich nicht immer als Wandelgänger gelebt. Ich hoffe sehr, dass Du Dich von seinem Alter nicht abschrecken lässt. Colin, ich hab Dich gegen Tessa kämpfen sehen - ich weiß, welche Kräfte in Dir schlummern.
Der Glücksangriff von Paul ist auf den kommenden Freitag, 23. April, angesetzt. Gianna hat Konzertkarten organisiert, Ultravox in der Großen Freiheit. Angeblich eine bekannte Achtzigerjahre-Band. Ich finde, der Name hört sich nach Damenbinden an, aber na gut. Etwas anderes gibt es an diesem Tag nicht und wir können nur den Freitag nehmen, weil François den ganzen Tag wegen Vertragsverhandlungen in Dresden unterwegs ist. Er wird erst spätabends zurückkommen. Der Termin steht dick und fett in seinem Kalender. Es scheint wichtig zu sein, also wird er ihn nicht sausen lassen. Ich weiß, das ist ein Tag weniger Trainingszeit für Dich. Ich hoffe, das geht in Ordnung. (Apropos Trainingszeit: Lars ist wirklich ein Arschloch. Wusstest Du, dass er Dich Blacky nennt?)
Wir werden gemeinsam chic essen gehen, das Konzert besuchen, und wenn Paul anschließend noch fit ist, machen wir zur Krönung des Abends einen Abstecher in die Disco. Gianna meint, das wäre die ideale Kombination. Ein bisschen Luxus und ein bisschen Lebensfreude -Essen, Musik und Tanzen. Sie ist Italienerin, laut gängigem Klischee muss sie es wissen, oder? Und ich hoffe, dass sie Paul küsst. Mindestens küsst.
Ich bin übrigens gerade im Westerwald. Ich wollte meine Mutter vor dem Kampf noch einmal sehen, aber sie ist nicht da. Verdammte Scheiße.«
Eine Träne tropfte auf meine schiefen Zeilen, und als ich sie wegwischte, verschmierte die Tinte. Doch ich hatte nicht die Nerven, den Brief neu aufzusetzen.
»Ich hab scheußliche Träume von Dir, Colin. Ich würde Dir gerne sagen, dass ich Dich liebe, aber ich bin mir momentan nicht sicher, ob ich es tue.«
»Was für ein Käse«, brummte ich und strich den letzten Satz durch.
»Doch, ich liebe Dich. Es fühlt sich nur grad nicht so an. Aber ich weiß es. Ganz bestimmt.
Semper fidelis, Lassie«
Semper fidelis. Immer treu. Einige der wenigen lateinischen Formulierungen, die ich sofort gemocht und nie vergessen hatte. Ich faltete den Briefbogen zusammen, stopfte ihn in ein Kuvert und adressierte es.
Und jetzt? Das ganze Wochenende allein in diesem riesigen Haus verbringen? Wieder nach Hamburg fahren und alleine in Pauls leerer Wohnung sitzen? Nein. Ich brauchte dringend ein wenig Schlaf. Danach konnte ich mich immer noch in den Volvo setzen. Aber zuallererst musste ich den Brief wegbringen.
Schon auf der kurzen Strecke nach Rieddorf begann mich das schlechte Gewissen zu peinigen. Ich wollte einen Brief einwerfen, in dem ich Colin anlog, um die Chancen zu erhöhen, dass er den Kampf annahm. Dabei bestand ohnehin das Risiko, dass er ihn das Leben kosten würde. Doch ich kannte Colin. Manchmal war er mir eine Spur zu vorausschauend und bedächtig und kalkulierend. So etwas konnte auch ein Hemmschuh sein, das wusste ich von mir selbst nur allzu gut. Nein, es war keine Lüge, es war eine Motivationshilfe. Colin würde François schon in die Knie zwingen.
Im Grunde blieb mir gar nichts anderes übrig, als die Zahlen zu frisieren. Ich kannte keinen anderen Mahr, den ich gegen François antreten lassen konnte. Colin musste es tun. Ich hatte im unglücklichsten Falle nur die Wahl zwischen einem schnellen und einem langsamen Verderben und ich wollte das schnelle.
Trotzdem ließ mir mein Gewissen keine Ruhe, nicht nur wegen Colin, sondern auch wegen Herrn Schütz. Ich hatte ihn behandelt, als habe er nach meinem Leben getrachtet. Das mit dem Brief konnte ich nicht mehr ändern. Er musste eingeworfen werden. Aber Herr Schütz war immerhin mein Lehrer gewesen - mein
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