Scherbenmond
Fenster und blickte hinaus. Mein Atem blubberte und ich glaubte, Blut zu schmecken. Dann wurde die Stille für eine weitere Sekunde zerrissen, gefolgt von einem grellen Jaulen, das sich mit meinem eigenen Aufschrei vermischte. Ich hielt mich an der Kante der Fensterbank fest, um nicht zu stürzen wie er, dessen Körper sich aufbäumend um sich selbst drehte.
»Ihr Idioten, ihr gottverdammten Idioten«, flüsterte ich. »Es war doch nur ein Wolf. Er hat euch nichts getan ...«
Während er starb, verschlangen sich seine Träume ein letztes Mal mit meinen. Ich spürte seinen Schmerz, seinen Schrecken und seinen zornigen Widerwillen gegen den Tod, als hätten die Gewehrkugeln meine eigene Lunge zerfetzt. Auch ich wollte noch nicht sterben und auch ich war unendlich zornig, als ich ihn vor mir auf dem feuchten, kalten Laub liegen sah, ein dünnes Blutrinnsal über den Lefzen, die Pfoten zuckend, als versuchten sie, vor der Endgültigkeit des Todes zu fliehen. Ich ließ die Fensterbank los, weil ich meine Finger ausstrecken und tröstend über sein dichtes Nackenfell streicheln wollte. Aufschluchzend fiel ich zu Boden.
Mehr als der Wolf war gestorben, ich konnte es fühlen. Das hier
war nicht mehr meine Heimat. Es war nur noch ein feindseliger, finsterer Wald und ich fürchtete die Menschen, die in ihm hausten. Den ganzen Winter über hatte ich gehofft und gebetet, dass der Wolf sich versteckte und die Jäger ihn nicht entdeckten, dass er für Colin und mich bleiben durfte. Er hatte uns Zeit verschafft, indem er Tessa zerfleischte. Er war freiwillig in den Kampf getreten. Obwohl Colin seine Träume geraubt hatte, hatte der Wolf stets seine Nähe gesucht und monatelang geheult, nachdem er verschwunden war, als wolle er ihn herbeirufen. Niemand außer mir hatte ihn gehört in all den frostklaren Schneenächten. Sein Gesang hatte mich getröstet. Ich kannte seine Träume - er war mir vertraut gewesen.
Nur zögerlich verebbte der Schmerz in meiner Lunge, doch sobald ich mich rühren konnte, stand ich auf, um - wie so oft in diesem Frühjahr - meine Sachen zu packen. Ich musste hier weg. Einen Moment lang hasste ich das ganze Dorf, wollte durch die wenigen Straßen laufen und meine Abscheu laut hinausbrüllen, um jeden einzelnen Bewohner aus seinem bigotten Schlaf zu rütteln. Doch das hätte den Wolf auch nicht wieder lebendig gemacht.
Ich hielt schon die kühle Klinke der Haustür in der Hand, als das Schrillen des Telefons die Grabesruhe des Hauses durchbrach. Telefon? Jetzt? Es war kurz vor vier Uhr in der Frühe - es konnte keine gute Nachricht sein, die auf mich wartete. Zwei Mal hatte uns um diese Uhrzeit jemand angerufen und jedes Mal hatte er den Tod verkündet. Den von Mamas Mutter und den von Papas Mutter. Sie starben beide exakt dreizehn Tage vor ihrem fünfundsiebzigsten Geburtstag, ein Zufall, der mir stets eine Gänsehaut über den Rücken rieseln ließ, wenn ich darüber nachdachte. Doch nun fiel mir ein, dass es auch noch einen dritten Anruf gegeben hatte. Keine Todesnachricht und dennoch mit einem Schrecken verbunden, dessen Echo mich erneut in seiner ganzen Gnadenlosigkeit einholte. Es geschah in der Gewitternacht im vergangenen Sommer - der Strom war ausgefallen und trotzdem hatte das Telefon geklingelt, minutenlang, bis ich abnahm und eine Stimme hörte, die weder menschlich noch tierisch, weder weiblich noch männlich klang, aber uralt und so machtvoll, dass ich mich nicht hatte überwinden können aufzulegen. Bis heute wusste ich nicht genau, wer der Anrufer gewesen war und was er eigentlich gewollt hatte, warum er nach meinem Vater verlangte. Nur eines war mir klar - er konnte es wieder sein.
Und wie in der stürmischen Gewitternacht, in der ich jeden Augenblick mit meinem Tod gerechnet hatte, stand ich auch in diesen grauschwarzen Morgenstunden wie gelähmt vor dem klingelnden Telefon und sah meiner Hand zu, wie sie sich nach vorne bewegte, blass und schmal, und es aus seiner Ladestation zog.
Ich verzichtete darauf, meinen Namen zu sagen, es war überflüssig. Ich hatte das Ohr noch nicht an die Muschel gedrückt, als mir bereits das tiefe, lang gezogene Atmen entgegenbrandete und eine innere Versteinerung auslöste, der ich nicht entrinnen konnte. Ich musste zuhören, obwohl es in der Leitung in einem fort rauschte und knackte und das Wesen am anderen Ende der Verbindung nichts sagte, nur atmete, viel zu langsam. Es musste eigentlich ersticken, aber seine gesamte Aura war so überwältigend,
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