Scherbenmond
es sich handelt. Ich kann es wirklich nicht.«
»Elisabeth, so geht das nicht.« Herr Schütz griff nach meinen Händen, doch ich entzog sie ihm mit einem Ruck. Hebelwirkung. Es gab nichts Besseres.
Herr Schütz ließ sich nicht beirren. »Du willst mir nicht sagen, was ihr beide im Sommer erlebt habt - gut, das akzeptiere ich. Aber nun kommst du her und redest von dem Bösen und ob es vernichtet werden darf. Ich muss wissen, wovon du sprichst.«
»Nein, das glaube ich nicht. Und selbst wenn ich es Ihnen erzählen würde, Sie würden es mir sowieso nicht abnehmen. Auch das habe ich Ihnen schon einmal gesagt. Mir geht es ja nur um folgende Situation: Da ist ein Mensch, den ich sehr liebe, und er befindet sich in großer Gefahr, aus der er aus eigener Kraft nicht entkommen kann, weil er sie gar nicht sieht. Nicht sehen kann! Wenn ich nichts unternehme, wird er sterben. Er ist schon krank. Ich kann ihn nur retten, wenn ich das Böse vernichte. Aber es kann sein, dass es schiefgeht und sowohl er als auch ich dabei umkommen.« Und vielleicht auch Ihr Sohn, führte ich im Geiste zu Ende.
»Hast du dich von irgendeiner Sekte kapern lassen, Elisabeth?«, fragte Herr Schütz mit unübersehbarer Beunruhigung. »Was genau ist das Böse?«
»Das ist es, was ich Ihnen nicht sagen kann. Sorry, ich kann es nicht. Ich will nur wissen, ob ich seinen Tod planen dürfte, wenn ich es denn könnte.« Wenn ich es denn könnte. Dieser Satz brachte die Wendung. Herr Schütz prustete erleichtert. Und doch hatte ich nicht gelogen, denn ich allein konnte es tatsächlich nicht.
»Nun, stellt sich für dich die Frage, ob du es darfst oder nicht? Oder nicht viel eher die Frage, ob du es ertragen kannst, wenn du es nicht tust? Mit welchen Konsequenzen könntest du am besten leben? Das Gesetz jedenfalls fährt eine klare Linie und die Bibel auch. Du sollst nicht töten. Ich für meinen Teil versuche, mich daran zu halten.«
»Zählt man mal die Heimchen nicht dazu, die täglich in diesen vier Wänden krepieren«, ergänzte ich mit einem Blick auf das Terrarium, in dem die gesättigte Henriette mit gefalteten Fangarmen Frömmigkeit mimte.
»Sicher, sicher«, bestätigte Herr Schütz betreten.
So einfach war das also. Ich musste mich entscheiden, mit welchen Konsequenzen ich am besten leben konnte. Diese Frage war für mich schon lange beantwortet. Ich konnte Paul nicht untätig dahinsiechen lassen. Niemals. Lieber hatte ich den Tod eines anderen Wesens auf dem Gewissen als den meines Bruders. Und leider hatte ich nicht die Möglichkeit, die Polizei einzuschalten, ohne selbst eingebuchtet zu werden. Und zwar in die Psychiatrische.
Ich musste das alleine durchstehen, selbst wenn ich dafür lebenslänglich in den Knast kam. Ganz abgesehen davon wäre François sowieso schon längst unter der Erde, wenn er nicht verwandelt worden wäre. Falls Colin ihn tötete, erledigte er nur das, was Mutter Natur bereits vor über hundert Jahren hatte tun wollen.
»Okay. Mehr wollte ich nicht wissen.« Ich stand auf, drückte Rossini einen Kuss auf seinen zierlichen Kopf und gab Herrn Schütz die Hand. Vielleicht zum letzten Mal. »Danke für alles.«
Er sah mir stumm nach, während ich durch die Haustür verschwand und auf den Volvo zusteuerte. Ich war plötzlich so müde, dass ich kaum noch geradeaus laufen konnte. Als ich Herrn Schütz aus dem Autofenster heraus zum Abschied zuwinkte, hob er die Hand und sein Gesicht war sorgenzerfurcht. Lange würde ich ihn nicht mehr hinhalten können. Er wusste genau, dass etwas vor sich ging, was irgendwie - merkwürdig war. Aber es reichte, wenn ich das Leben meiner Freunde gefährdete. Herr Schütz musste nicht auch noch dazugehören. Außerdem würde er es brühwarm meiner Mutter erzählen.
Zu Hause fiel ich wie ein Stein ins Bett. Mein Adrenalinvorrat war endgültig aufgebraucht. Ich hatte nicht einmal mehr die Energie, meinen Arm zu heben, um nach der Wasserflasche zu greifen, obwohl meine Kehle trocken und rau vor Durst war.
In Kleidern und mit Schuhen an den Füßen, das Gesicht fest ins Kissen gedrückt, schlief ich ein, während draußen vor dem Fenster die Amseln klagend den ersten warmen Frühlingsabend begrüßten.
Mutterseelenallein
Der Schuss trennte mein Bewusstsein sauber und schnell vom Schlaf, als wolle er meine Träume ein für alle Mal auslöschen. Ich krümmte mich in einem jähen Schmerz, bevor das panische Winseln durch die Nacht schallte. Ehe der zweite Schuss fiel, stand ich am offenen
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