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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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das kann ich mir merken. 1822, neunzehn Jahre. Lass uns verschwinden.« Warum François optisch nicht mehr wie neunzehn aussah, sondern älter, wenn auch undefinierbar alt, konnte ich mir nicht erklären. Vielleicht hing dieser Umstand mit seinem Jagd- und Fressverhalten als Wandelgänger zusammen. Auf jeden Fall würde es knapp werden. Verflucht knapp. Ich schob die Akte zurück in ihr Versteck.
    »Und der Hund?« Gianna blinzelte mich zweifelnd an, als überlege sie, ob ihr Mitleid oder doch ihre Angst stärker war.
    »Den nehmen wir mit.« Ich quetschte mich durch die Müllberge und steuerte zielstrebig auf den winselnden Rossini zu.
    »Hast du nicht gesagt, wir sollen keine Spuren hinterlassen?« Gianna tippte mir von hinten auf die Schulter. »Elisa, bitte ...«
    »Das werde ich auch nicht«, knurrte ich, griff nach der Leine und riss sie an der Stelle auseinander, an der Rossini sie bereits weich gekaut hatte. Mit einem dankbaren Jaulen drückte er sich an meine Beine und versuchte, seinen schmalen Kopf zwischen meinen Knien zu verbergen.
    »Wir sind gleich draußen, Hund«, besänftigte ich ihn raunend, doch er wich mir keinen Millimeter von der Seite. Mit einem Hieb meiner Faust stieß ich das kleine, primitive Gitterfenster auf. Den Müllbergen sei Dank war es durchaus plausibel, dass Rossini auf den Stapel aus alten Zeitschriften und Verpackungen gesprungen war und in seiner Verzweiflung die Luke eingedrückt hatte. Oder aber einer der Passanten hatte ihm dabei geholfen (obwohl die sich wahrscheinlich kaum auf den Hof hinter der Galerie verirrten).
    Ich kramte die Plastiktüten aus meinem Rucksack und gab eine davon Gianna. »Ratten einsammeln«, befahl ich. Es waren nicht allzu viele, doch sie würden François eventuell auf eine unwillkommene Fährte leiten. Eine oder zwei waren im Rahmen. Ein Dutzend am Gift verendete Kadaver hingegen waren ein Hinweis, dass jemand die Tür geöffnet hatte. Ich hatte gerade die erste sterbende Ratte in die Tüte fallen lassen, als Gianna mich mit zitternder Stimme zurückrief.
    »Was ist denn jetzt? Ich will weg hier!« Unwirsch drehte ich mich zu ihr um. Sie deutete an die Decke, und nachdem ich ihrem Blick gefolgt war, vergaß auch ich die Rattenkadaver. Zwischen dem Müll und den feuchten Backsteinen klemmte ein Glaskasten mit einem Totenschädel, erstaunlich sauber und völlig frei von Schimmel und Moder.
    »Weißt du, was das ist?«, flüsterte Gianna fassungslos. »Störtebeker! Das ist der Kopf von Störtebeker, der im Januar aus dem Museum für Hamburgische Geschichte gestohlen wurde! Die Deppen hatten die Vitrine nicht abgeschlossen. François hat ihn geklaut. Einen Schädel aus dem 15. Jahrhundert. Was will er damit?«
    »Ich sag ja: pure Raffgier. Bestimmt will er ihn teuer verhökern. Aber das können wir wohl kaum der Polizei melden, oder?« Das musste auch Gianna einsehen.
    Während sie den Riegel wieder an die Tür schraubte, sorgte ich dafür, dass die toten und sterbenden Ratten aus dem Tunnel verschwanden. Bepackt mit drei dicken Aastüten tapsten wir zurück ins Freie und rissen uns nach Luft schnappend die Masken vom Gesicht. Ich warf die Ratten ohne das geringste Bedauern in den nächsten Müllcontainer. Im Eilschritt liefen wir zu Giannas Auto. Rossini folgte uns japsend.
    Ich war mir bewusst, dass meine Windhund-Rettungsaktion die ganze Angelegenheit unnötig verkompliziert hatte. Aber ich hätte es nicht übers Herz gebracht, ihn in François’ Müllhalde eingehen zu lassen. Ich war weiß Gott kein Hundeliebhaber, doch das hatte dieses Tier nicht verdient, auch wenn ich riskiert hatte, dass François misstrauisch wurde. Doch es war zu spät, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Ich musste darauf vertrauen, dass François den Verlust seines Hundes in seiner Gier entweder gar nicht erst bemerken oder rasch durch den Kauf eines neuen bedauernswerten Tieres ausgleichen würde.
    Ich goss ein wenig Wasser in den Rinnstein und ließ es Rossini aufschlecken. Gianna lehnte blass an der Wand und schmierte sich die Lippen mit ihrem Labello ein. Ihre Augen blickten ins Nichts. Sie sah aus wie eine Untote.
    Ich nutzte die plötzliche Ruhe, um mich ausführlich umzusehen.
    Die Häuser um die Galerie herum waren offenbar derzeit unbewohnt, aber mit Bauzäunen versehen. Wahrscheinlich sollten sie in Kürze saniert werden - und boten damit genug Lebensraum für all die Ratten, die vorhin geflohen waren. Ich konnte sie weder sehen noch hören. Sie würden die

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