Scherbenmond
bester. Und er war Tillmanns Vater. Außerdem musste ich dringend mit jemand Vernunftbegabtem über den Floh reden, den Gianna mir gestern Abend ins Ohr gesetzt hatte, bevor wir uns Gute Nacht gesagt hatten:
»Dürfen wir François überhaupt töten? Seinen Tod organisieren? Er ist eine reale Person, auch als Wandelgänger. Mit gültigen Papieren und Arbeit und einer Wohnung. Und selbst wenn er es nicht wäre: Ist es recht, das Böse zu töten?«
Ich hatte ihr keine Antwort geben können. Ich wusste ja nicht einmal, was genau Colin beim Kampf überhaupt im Schilde führte. Aber einen Mahr konnte man vermutlich nur ausschalten, indem man ihn tötete - zumindest konnte ich mir keine andere Variante vorstellen. Und dann war Giannas Frage berechtigt. Um Colin machte ich mir dabei weniger Sorgen. Er würde schneller fort sein, als die Polizei erlaubte. Er würde nicht noch einmal den Fehler machen, sich einsperren zu lassen. Aber was war mit uns? Wir wären Mitwisser, hätten den Mord sogar vorbereitet. Wir konnten für mehrere Jahre im Gefängnis landen. Warum hatte Colin dieses Thema nicht angeschnitten? War es ihm gleichgültig, ob ich hinter Gittern saß oder nicht?
Und Giannas moralische Bedenken - ja, wir waren gestern beide in der Stimmung gewesen, mit François’ Gebeinen ein Bowlingturnier auszurichten, doch auch ich fragte mich, ob ich das Recht hatte, den Tod eines anderen Wesens zu beschließen, so niederträchtig es auch war.
»Da bist du ja schon wieder«, begrüßte mich Herr Schütz gottergeben, als ich erneut bei ihm vor der Tür stand - diesmal jedoch wesentlich geknickter und unterwürfiger als vorhin.
»Wollte mich entschuldigen und so«, nuschelte ich und ein Lächeln bemächtigte sich seines Gesichts, während er sich ausgiebig am Hinterkopf kratzte. Er zog an seiner Zigarette und trat zur Seite, um mich hereinzulassen. Er soll bloß nicht glauben, dass er bei uns im Haus rauchen dürfte, dachte ich, legte das wütende Tier in meinem Bauch aber gleich wieder an die Kette. Es durfte sich jetzt nicht selbstständig machen.
»Ich muss Sie etwas fragen«, sagte ich bestimmt, nachdem wir in seiner schäbigen, kleinen Küche unter der Tillmann-Bilderwand Platz genommen hatten.
»Ich dich auch, Elisabeth. Wie geht es meinem Sohn?«
»Oh, der ... ja, Tillmann geht es gut. Sehr gut sogar. Er begleitet Paul momentan auf einer Kreuzfahrt, als Assistent sozusagen.« Herr Schütz musste ja nicht wissen, dass Tillmann in erster Linie mein Assistent und als blinder Passagier aufs Schiff geklettert war. »Er hat ein Mädchen kennengelernt.«
»Wirklich?« Herrn Schütz’ Lächeln verwandelte sich in ein stolzes Strahlen. Als habe ihm diese Vorstellung einen Energiestoß verpasst, stand er auf und wandte sich seinen Terrarien zu. »Hilfst du mir bitte mal beim Füttern?«
Ich gehorchte mit einem unüberhörbaren Protestschnauben und reichte ihm mit einem weiteren Schnaufen die Pinzette samt zappelnder Grille für Henriette, die starr und hungrig wartete.
»Tillmann ist also verliebt ...«, sinnierte Herr Schütz selig. Zack, hatte sich Henriette in einem Sekundenangriff das Heimchen von der Pinzette gerissen. Nun, mit aufrichtiger Liebe hatte Tillmanns neue Bindung vermutlich nicht übermäßig viel zu tun, aber ich nickte beifällig.
»Auch in der Galerie macht er sich gut. Er hat einen sehr interessanten Super-8-Film gedreht ... und selbst entwickelt! Wir waren vom Ergebnis überrascht.«
»Schön. Wirklich schön.« Herr Schütz rieb sich versonnen sein kleines Bäuchlein. Zufrieden beobachtete er, wie Henriette nagend den Chitinpanzer der Grille aufbrach.
»Und was hast du auf dem Herzen, Elisabeth?«
Ich schlug die Augen nieder und versuchte, mir meine Worte zurechtzulegen. Doch egal, wie ich sie sortierte - sie klangen immer dramatisch.
»Darf man das Böse vernichten, um eine geliebte Person zu retten?«
Herr Schütz schwieg verdattert. Henriette hingegen knusperte unverdrossen weiter. Für Stimmungsumschwünge schien sie kein Feingefühl zu haben.
»Ist das die Grundlage einer theoretischen Diskussion oder ... oder sprichst du von einer konkreten Situation?«
»Beides, glaube ich.« Ich setzte mich wieder auf die Küchenbank und zupfte an dem fleckigen Tischtuch herum, während Rossini sich schwer gegen meine Beine lehnte.
»Hat mein Sohn etwas ausgefressen?« Herr Schütz schloss das Terrarium und kam zu mir.
»Nein, nein! Nein, das hat er nicht. Ich kann Ihnen nicht sagen, worum genau
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