Scherbenmond
bringen, je schneller, desto besser. Ich musste im Grunde lediglich das tun, was ich früher in der Schule jeden Tag praktiziert hatte. Schauspielerei. Mit den Wölfen heulen. So tun, als sei François ein Teil unserer Familie. Ich brauchte ihm keine Sympathie vorzugaukeln - nein, es ging einfach darum, dem Lebensgefährten meines Bruders zu berichten, wie es um ihn stand.
Meine Sorge durfte echt sein. Meine Hintergedanken aber mussten im Verborgenen bleiben.
Das Freizeichen ertönte. »Jetzt«, sagte ich leise. Tillmanns Fingerkuppen bohrten sich in meinen Arm und ich unterdrückte ein Aufstöhnen. Verdammt, tat das weh. Es war noch schlimmer, als wenn Lars mir auf diese Stelle schlug. Aber es half mir, mich zu konzentrieren.
»Tillmann? Bist du das? Was ist mit Paul? Ich habe versucht, ihn anzurufen, immer und immer wieder, was ist mit ihm?«, schallte François’ ätzendes Blöken aus dem Hörer.
»Hey, François. Ich bin s, Ellie. Pauls Schwester.«
In der Leitung ertönte nur ein verächtliches »Pfff«.
»Fester«, flüsterte ich, und obwohl Tillmann blöd grinste, gehorchte er. Ich krümmte mich nach vorne und biss die Zähne aufeinander, um nicht zu schreien.
»Hör zu, François, ich wollte dir nur sagen, dass Paul einen Herzfehler hat, nichts Dramatisches, irgendeine Blockierung, keine Ahnung. Sie wollen ihn noch untersuchen in den nächsten Tagen, dann soll er einen Herzschrittmacher bekommen und vier Wochen lang zur Reha ...«
»Reha? Sind die bescheuert? Wieso soll Paul denn in die Reha? Er ist doch nicht alt oder krank, warum in die Reha? Warum? Ich brauche ihn. Er kann nicht in die Reha. Ich brauche ihn. Das geht nicht. Das kann er nicht tun. Paul kann nicht in eine Reha.«
Nicht freuen, Ellie. Teile seine Gedanken. Begib dich auf seine Ebene.
»Ja, ich finde es auch seltsam. Er ist schließlich nur umgekippt. Aber du weißt, wie Ärzte sind. Geht garantiert ums Geld. Paul ist immerhin privat versichert. Ich wollte dir auch nur Bescheid sagen. Kannst ihn ja mal anrufen, er freut sich bestimmt. Tschau.«
Ich legte auf und befreite meinen Arm aus Tillmanns Griff, um ihn zu massieren. Kannst ihn ja mal anrufen, er freut sich bestimmt. Was hatte ich da nur angerichtet? Ich brachte Paul um seine Therapie. Wenn es irgendeinen vermeintlich gesunden Vierundzwanzig-jährigen gab, der eine Reha dringend nötig hatte, dann war er es. Er ging am Stock, und das schon seit Monaten. Zeichen eines schleichenden Verfalls, einzeln betrachtet harmlos, aber im Gesamtpaket vernichtend.
Doch besser dieses Risiko als einen Schrittmacher, der durch die Störfrequenzen eines Mahrs außer Takt geriet und Pauls Herz im Ernstfall zum Aussetzen brachte. Vor allem aber stand der Termin zum Kampf fest. Ich hatte Colin Bescheid gegeben. Auch wir konnten keine Reha gebrauchen.
François war also erst einmal weg - seine Geldgier kam uns zugute - und Tillmann hatte angeblich keine Probleme, seine Gedanken abschweifen zu lassen. Blieb nur noch Gianna. Von Pauls Zusammenbruch durfte ich ihr nichts sagen, es hätte sie augenblicklich angelockt. Doch sie wusste, dass er heute zurückgekommen war, und wenn ich sie nicht ablenkte, würde sie an ihn denken. Zu viel an ihn denken. Vielleicht spontan werden, wie Colin es befürchtet hatte.
»Ich muss noch mal weg«, murmelte ich und stand auf. »Wir sehen uns heute Abend.«
Dr. Sand freute sich, mich zu sehen, und ich freute mich, ihn zu sehen. Doch ich wollte mich nicht lange bei ihm aufhalten. Ich erzählte ihm kurz von Tillmanns Schlafstörungen und er empfahl mir, den Knaben persönlich vorbeizuschicken. Sein Problem könne er aus der Ferne nicht beurteilen.
»Geht es Ihnen denn wieder besser, Elisabeth?« Er sah mich ernst an.
»Ja. Ich - ich habe mich den Erinnerungen gestellt«, antwortete ich aufrichtig und er schien zu spüren, dass ich nicht log. Doch Dr. Sand war nicht dumm. Er spürte auch, dass weitaus mehr in mir brodelte. »Es gibt da noch ein paar Schwierigkeiten«, ergänzte ich vage. »Nichts Spruchreifes. Es ist... verzwickt.«
»Aha«, machte Dr. Sand, ohne mich aus seinem grauen Blick zu entlassen.
»Und ich habe deshalb eine Bitte an Sie. Sollte - sollte mir etwas zustoßen, mir und meinem Bruder, meine ich. Und Colin. Dann können nur Sie herausfinden, was genau passiert ist. Verstehen Sie?« Sie sollen unsere Leichen fleddern, dachte ich, was ich nicht auszusprechen wagte. In unsere Hirne schauen. Nachsehen, ob Colin ein Herz hat. Dr. Sands Augen
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