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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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ich mich an ihrem Rahmen hoch.
    »Paul! Tillmann, wo ist Paul? Ist er noch unten? Streitet mit -?«
    Tillmann schüttelte langsam den Kopf. Die tiefe, ernste Sorge in seinen Augen - ein Ausdruck, den ich bei ihm noch nie gesehen hatte - verdoppelte meinen Herzschlag und ließ mich nach Luft schnappen. Irgendetwas war nicht in Ordnung. Und wenn Tillmann sich schon sorgte, dann ...
    »Wo ist mein Bruder? Wo ist Paul?« Ich packte ihn am Kragen und zog ihn zu mir. Er wehrte sich nicht, kickte aber nachlässig einen grauen Koffer in den Flur, während ich an ihm herumzerrte. Pauls Koffer.
    »Versuch, ruhig zu bleiben, Ellie, okay? Und lass mich mal los.« Er griff nach meinen Händen und löste sie entschieden von seinem Pulli. »Paul ist ... er ist zusammengeklappt. Das ging ganz schnell, ich hab es selbst gar nicht mitbekommen ...«
    »Wann? Wo? Und was heißt das, zusammengeklappt?«
    »Wenn du aufhörst zu schreien, kann ich dir alles erklären. Wir sind gerade vom Schiff gegangen und ich hab mich ... verabschiedet.« Verabschiedet. Ja, klar.
    »Du hast mit deiner Tussi rumgemacht, während es meinem Bruder schlecht ging?«
    »Ellie«, sagte Tillmann drohend. Seine Augen verengten sich. »Unterbrich mich nicht dauernd und hör mir zu. Kapiert? Jedenfalls hab ich es nicht mitgekriegt, er lag beim Auschecken auf einmal auf dem Boden und war bewusstlos. François wollte ihn wegzerren, aber zum Glück haben ein paar Leute einen Krankenwagen gerufen und dann - na ja, dann ist er abgeholt worden. Er ist nicht mehr zu sich gekommen. Aber er hat geatmet, Ellie, das hab ich genau gesehen. Er lebt. Guck mich nicht so an!« Jetzt war auch Tillmann laut geworden. Er rückte ein Stück von mir ab. »Ich bin jedenfalls nicht daran schuld! Es ging so schnell... «
    »Könntest du mir endlich meine Frage beantworten: Wo ist er?«, fauchte ich ihn an. Er wich noch ein paar Zentimeter zurück, sah aber nicht so aus, als ob er Angst hätte. Sondern eher, als wolle er sein Gesicht davor schützen, zerkratzt zu werden.
    »In einem Krankenhaus, wo sonst?«
    Ohne ein Wort rannte ich in unser Zimmer und zog mich an. Meine wirren Haare band ich notdürftig im Nacken zusammen. Drei Minuten später stand ich wieder vor Tillmann.
    »Bring mich dahin. Sofort.« Ich drückte ihm den Autoschlüssel in die Hand.
    »Hattest du nicht gesagt, ich hätte keinen Führerschein?«, fragte Tillmann betont cool. »Hör gefälligst auf, mich rumzukommandieren, und ... «
    »Du bringst mich jetzt dahin! Deine Fahrerlaubnis interessiert mich nicht! Du bist auch als blinder Passagier auf die AIDA geklettert, also stell dich nicht so an! Oder soll ich fahren?« Mit einem betont irren Lächeln stemmte ich die Arme in die Seite.
    »Besser nicht«, murmelte Tillmann abschätzig, nahm den Schlüssel und lief mir voraus zum Auto.
    »Wo ist eigentlich François?«, bellte ich, nachdem ich mich in den Wagen gesetzt hatte. Ich sah Tillmann unentwegt an, doch er war damit beschäftigt, den Volvo aus der Parklücke zu bugsieren - und das machte er bemerkenswert souverän.
    »Hallo, ich hab dich was gefragt!«
    »Wieder mal unterwegs zu Kunden. Mann, der Typ ist gierig, das glaubst du nicht. Der labert die Leute tot, damit sie ein Bild kaufen. Die denken am Schluss, es liegt ihr Seelenheil darin, dafür zu blechen. Er hat alle Gemälde losbekommen, zu Unsummen! Paul war das manchmal richtig peinlich.«
    »Du warst dabei? Du solltest dich doch von ihm fernhalten, hab ich dir gesagt... «
    »Ich war immerhin offiziell als ihr Assistent auf dem Schiff! Ich konnte mich schlecht drücken. Aber mach dir mal keine Sorgen um meine Gedanken. Die waren woanders.« Tillmann grinste dreckig. Ich schnaubte nur. Gedanken konnte man das wohl kaum mehr nennen.
    Kurz vor der Klinik - leider nicht dem Jerusalemkrankenhaus -schlug meine Gereiztheit in Angst um, ohne Vorwarnung, aber mit derselben Intensität wie so oft in den letzten Tagen. Ich wusste nicht mehr, wie es war, sich ausgeglichen und entspannt zu fühlen. Ich •bestand nur noch aus Extremen.
    Es konnte mir nicht schnell genug gehen und so stauchte ich nicht nur Tillmann zusammen, weil er sich alle Zeit der Welt beim Bezahlen des Parktickets nahm, sondern auch die Frau hinter dem Infoschalter, weil sie telefonierte, anstatt uns ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Sie sah mich an, als habe ich ihr soeben den Mann weggeschnappt und ihre Kinder entführt. Dieser Blick war mir sehr vertraut. Tränen und Aggressivität in einem trieben

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