Scherbenmond
auf dem Sofa. Der Fernseher war aus, das Licht gelöscht. Schlief er?
Ich kuschelte mich samt dem Bettzeug auf Pauls Lieblingssessel. Eine Schreckschraube war ich also geworden. Ja, ich konnte mich selbst nicht mehr leiden. Meine Ventile standen unter Überdruck. Wie sollte ich so in den Kampf ziehen und vorher meinen Bruder glücklich machen? Wie? Auch das Bedrohungsgefühl war noch da, unvermindert stark und nebulös. Nicht greifbar, doch ich spürte es von den Haarwurzeln bis zu den Zehenspitzen. Ich schniefte unterdrückt.
»Ach komm, Ellie, das ist doch albern. Lass uns ins Bett gehen.«
Tillmann stand auf und lief voraus zu unserem Zimmer und ich stellte mit einem verschämten Grinsen fest, dass wir uns benahmen wie ein zerstrittenes Ehepaar. Nach ein paar Anstandsminuten folgte ich ihm und war eingeschlafen, bevor ich bis zehn zählen konnte.
Das Zweite Gesicht
Noch zwei Nächte. Zwei Nächte bis zu unserem Glücksangriff. Das war nicht viel - das sollte zu schaffen sein. Doch mir kam es vor wie der Olymp und ich hatte keine Kraft mehr, ihn zu besteigen. Körperlich barst ich schier vor überschüssiger Energie, die unaufhörlich von dem zornigen Tier in meinem Bauch genährt wurde. Doch meine ständige Angst und das unüberwindbare Misstrauen gegen alles und jeden fühlten sich an wie lebensnotwendiges Gift, mein Verderben und meine schärfste Waffe zugleich. Als bräuchte ich es, obwohl es meine Nervenstränge bis in die feinsten Ästelungen verätzte.
Jeden Moment sollte Paul aus dem Krankenhaus zurückkommen. Er hatte darauf bestanden, selbst nach Hause zu fahren, wahrscheinlich, weil er noch François treffen wollte. Ich klebte im Flur vor der Eingangstür und wartete auf ihn, da er auf keinen Fall auf die Idee kommen durfte, irgendetwas Riskantes zu unternehmen. Mit jeder Minute wurde es dunkler, doch ich machte kein Licht. Ich wollte die Bilder nicht sehen.
Meine List mit dem Anruf bei François war aufgegangen. Paul würde sich weder einen Herzschrittmacher einpflanzen lassen noch eine Rehaklinik aufsuchen. Dabei war es nicht nur sein Herz, das Probleme machte. Seine Cholesterinwerte waren kriminell - wie ich es geahnt hatte. Er war eine tickende Zeitbombe.
Als es klingelte, schoss ich hoch und riss die Tür auf, um Paul in die Wohnung zu zerren. Doch nicht Paul stieg die Treppe herauf. Es war Gianna und sie sah nicht aus, als sei sie hergekommen, weil sie mich gerne Wiedersehen wollte. Nein, sie wirkte, als wolle sie mir die Gurgel umdrehen.
Ich hatte inzwischen blitzschnelle Reaktionen. Trotzdem gelang es mir nicht vollständig, ihre Ohrfeige abzufangen. Die zweite aber traf mich nicht mehr. Mit einem verwunderten Quieken ging Gianna zu Boden, und bevor sie Piep sagen konnte, hatte ich sie auf den Bauch gewälzt und ihren Arm verdreht, sodass sie nicht mehr in der Lage war, sich zu rühren. Reden konnte sie allerdings noch.
»Warum hast du das getan? Warum?«, keuchte sie und versuchte, sich aus meinem Griff zu winden. »Ellie, du kugelst mir die Schulter aus ...«
Ich ließ los. Gianna blieb einen Moment liegen und tastete mit schmerzverzerrtem Gesicht ihren Arm ab, bevor ihre Augen sich in meinen festsaugten. Himmel, war sie sauer.
»Marco?«, hakte ich nach.
»Genau. Der Mann, an den ich drei Jahre meines Lebens verschenkt habe, und weißt du was? Er erinnert sich nicht mehr! Er hat sich jeden verdammten Tag mit Drogen zugedröhnt, um nichts mehr von der Welt mitzukriegen. Er weiß nicht mehr, was wir zusammen getan haben, was ich alles für ihn getan habe, er ...« Gianna brach ab, um sich ein paar Tränen von ihren erhitzten Wangen zu wischen. »Er weiß nicht einmal mehr, dass er mein erster richtiger Mann war. Dass ich dachte, von ihm schwanger zu sein. Er weiß gar nichts. Blackout. Ich habe eine Beziehung mit einem Gespenst geführt! Dead man! Und ich wollte das alles niemals erfahren, niemals, verstehst du?«
Für einen winzigen, aber sehr klaren und hellen Moment überwältigte mich das Mitgefühl und ich wollte Gianna in den Arm nehmen und trösten, mich entschuldigen. Dann aber kehrten die Wut und das Misstrauen zurück - und dazu eine Gereiztheit, die kaum zu bändigen war.
»Es bleibt aber bei unserer Abmachung, oder?«, fragte ich. Meine Stimme klang schneidend. »Übermorgen Abend. Paul und du.«
»Elisabeth.« Gianna schüttelte aufschluchzend den Kopf. »Wer bist du? Warum hast du das getan? Warum hast du dich eingemischt? Ich hatte ihm schon verziehen und jetzt ist
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