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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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auch die besten Freunde in weite Ferne. Doch ich wollte keinen Kaffee mit ihr trinken. Ich wollte meinen Bruder sehen.
    Nach einer lästigen Diskutiererei, bei der Tillmann - ausgerechnet er! - sich für mich in Grund und Boden schämte, durften wir endlich zu ihm.
    »Paul!« Mit einem Mal verpuffte meine Wut und ich klebte als heulendes Elend an seiner breiten Brust. Er war bei sich, wach und aufrecht sitzend, zwar am Tropf, aber eindeutig lebendig, und er konnte sogar lächeln. »Ich hab dich so vermisst, Mensch, was machst du denn, du Idiot...«
    »Ist doch alles nicht so schlimm, Lupine.« Seine Stimme war belegt und sein Herzschlag ging langsam und schwer. Ich durfte ihm nicht zur Last fallen. Und mich nicht an ihn klammern, als wäre er die einzige verbliebene Schiffsplanke nach dem Untergang der Titanic. Nein, ich musste ihn aufheitern, zum Lachen bringen. Ich brauchte sein Lachen als Beweis, dass alles gut werden würde.
    »Ich kenne einen neuen Witz.« Ich ließ ihn los und setzte mich ordnungsgemäß auf die Bettkante, während eine Schwester mit kritischem Blick seinen Tropf überprüfte.
    »Oje«, sagte Paul trocken. Ich hatte noch nie gut Witze erzählen können und meistens die Pointe versemmelt. Aber dieser musste Paul gefallen.
    »Was ist der Unterschied zwischen Frauen und Gummistiefeln? Na?«
    »Ich habe keine Ahnung«, antwortete Paul höflich. Die Schwester drückte ihm schnaubend ein Fieberthermometer ins Ohr.
    »Also. Es gibt keinen«, begann ich triumphierend. »Wenn sie trocken sind, kommt man nicht rein; wenn sie feucht sind, fangen sie an, komisch zu riechen, und wenn man sonntags mit ihnen vor die Tür geht, wird man schief angeguckt.«
    Nun, schief angeguckt wurde ich jetzt auch, obwohl erst Samstag war, doch das geschockte Schweigen der Schwester wurde im Nu durch Pauls schallendes und gelinde beschämtes Lachen abgelöst.
    »Oh Gott, Ellie ... Wo hast du den denn her?« Ich zuckte verlegen mit den Schultern. Gut, dass Gianna nicht hier war. »Von meinem Karatelehrer.«
    »Du machst Karate?« Richtig. Das wusste Paul ja noch gar nicht. Und auch Tillmann wusste es nicht. Umsichtig vergrößerte er den Abstand zwischen uns. Er ging vermutlich davon aus, dass Colin der Karatelehrer war.
    »Ja, bei so einem Gorilla, im Moment täglich. Soll gut für die Psyche sein. Dr. Sand hat es mir verordnet. Innere Ruhe und so.« Immer schön die Bekloppte mimen. »Was ist denn jetzt mit dir, Paul? Warum bist du bewusstlos geworden?«
    Ein Arzt samt wissbegieriger Studentengefolgschaft, der weder von mir noch von Tillmann großartig Notiz nahm, nahm ihm die Antwort ab. Ich verstand nicht alles, was der Doc vor seinen Schützlingen und nebenbei auch vor Paul herunterbetete, aber was ich verstand, war alarmierend. AV-Block. Zweiten Grades. Herzschrittmacher empfehlenswert. Herzschrittmacher? Paul war vierundzwanzig! Und wieso hatte er plötzlich einen Herzfehler? Die Reizleitung war gestört, hieß es. Haha. Sehr symbolisch. Da waren so einige Reizleitungen gestört. Es sollten weiterführende Untersuchungen folgen, Blutwerte, Langzeit-EKG, Belastungstest.
    Paul hörte ruhig zu und hakte nur ab und zu nach. Ihm musste man nicht viel erklären. Er hatte selbst Medizin studiert. Er wusste genau, was das alles bedeutete - und doch wusste ich es viel besser.
    »Vieraugengespräch«, befahl ich Tillmann raunend, während ich mich an den Studenten vorbei aus dem Zimmer drückte - ich hatte darin sowieso nichts mehr verloren -, und marschierte den Gang entlang, bis ich eine Nische mit Besucherbank fand, in der wir ungestört reden konnten.
    »Das dürfen wir auf keinen Fall zulassen. Auf keinen Fall!«
    »Was meinst du, Ellie?« Tillmanns Befremden mir gegenüber wuchs sekündlich, doch er wusste nicht, was ich in den vergangenen beiden Wochen durchgemacht hatte. Eigentlich hielt ich mich noch wacker.
    »Den Herzschrittmacher, was sonst!« Ich trat gegen die Bank.
    »Aber wieso denn das? Ist doch klasse, dass die was gefunden haben und ihm helfen können ...«
    »Sag mal, hast du dich dumm gebumst? Weißt du, wie ein Herzschrittmacher funktioniert? Die haben es eben selbst gesagt! Moderne Technik vom Allerfeinsten! Mit minimalen, genau ausgerechneten Impulsen! Und dann einen Mahr in ständiger Nähe? Wir können Paul auch gleich ein Grab schaufeln und ihm eine Axt in den Rücken hauen!«
    »Okay. Stimmt. Hast recht. Hab ich nicht dran gedacht. Musst mich trotzdem nicht beleidigen. Dumm gebumst ... echt ...«

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