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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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nicht mehr vertrauen. Keinem Menschen mehr, nicht unserem Vorhaben. Nicht einmal Colin.«
    »Du vertraust mir also auch nicht?«, vergewisserte Tillmann sich ernst.
    Nun sah ich ihn lange an. Ich mochte ihn. Sehr sogar. Aber auch er fing damit an, mich als verrückt abzustempeln, und war damit ein potenzieller Gegner.
    »Okay, ich sehe schon. Du tust es wirklich nicht.« Er schüttelte ratlos den Kopf. »Ellie, das ist unsere einzige Chance - uns zu vertrauen. Kapierst du das nicht?«
    »Doch. Doch, ich kapiere das, aber ...« Ich nahm den metallenen Flaschenöffner vom Sofatisch und presste ihn auf meine brennenden Augen. Ich war mal wieder völlig übermüdet, aber gleichzeitig zu aufgepeitscht, um mich schlafen zu legen. Sollte ich ihm von meinen Träumen erzählen? Von meinen Vorahnungen? Mir von ihm die Tarotkarten legen lassen? Aber was, wenn sie bestätigten, was ich fürchtete? Dass Colin sich gegen mich gewendet hatte und nach meinem Leben trachtete?
    Tillmann nahm eine Decke von Pauls Lieblingssessel und legte sie mir über die Schultern und Beine. Dann schob er mir ein Kissen unter die tränennassen Wangen.
    »Du kannst heute Nacht beruhigt schlafen. François wird nicht kommen. Immerhin etwas. Und morgen ...«
    »Sieht die Welt wieder ganz anders aus?«, führte ich seine Worte ironisch zu Ende. »Ganz bestimmt nicht.«
    »Das wollte ich nicht sagen. Ich wollte sagen: Brust raus und Arsch zusammen. Wir schaffen das schon. Ich koch jetzt was, dann essen wir, gucken was Blödes im Fernsehen und ... «
    Ja, es war besser, wenn er nicht weiterredete. Er wusste das auch. Nichts würde in Ordnung kommen, nur weil man etwas aß und fernguckte. Gar nichts. Aber das Klappern des Geschirrs und all die anderen Küchengeräusche stimmten mich schläfrig. Dankbar rollte ich mich zusammen, bis nur noch meine Nasenspitze aus der Decke herausschaute, und war zu müde, um mich vor meinen Träumen zu fürchten.
    Aber ich träumte nicht. Ich schlief auch nicht. Es war eine rein körperliche Bewusstlosigkeit, die dazu diente, meine Energiereserven aufzufüllen. Meine Seele jedoch blieb aufgerüttelt und alarmiert, und als ich mitten in der Nacht erwachte, wusste ich sofort, dass sie allen Grund dazu hatte.
    Ich lag noch immer auf dem Sofa, aber Tillmann war fort und der Fernseher aus. Es war still - jene Stille, die mich vom ersten Tag an mit tiefer Beklemmung erfüllt hatte, weil sie nicht sein durfte und konnte. Hamburg war eine Großstadt und in Großstädten war es niemals still. Jedenfalls nicht so still wie jetzt. Nicht so still wie in jenen frühen Morgenstunden, in denen François die Wand hoch-gekrochen war. Nicht so still wie in den Sekunden, in denen ich mich nach langem Ringen aus meinen Träumen befreien konnte.
    Nur der Tod war so still - ein schleichender, unsichtbarer Tod, der dort ansetzte, wo wir am empfindlichsten waren. Nicht an unserem Körper. Sondern in unserem Geist. Und nun sollte es auch mich treffen.
    Fast devot schlug ich die Augen auf. Sein Blick war kalt und brutal, seine Hände Klauen, seine weit ausgebreiteten Arme Werkzeuge des Verbrechens. Rücklings hing er über mir an der Zimmerdecke, bereit, sich auf mich fallen zu lassen und mir mit einer einzigen Bewegung das Genick zu brechen. Doch vorher würde er mich aussaugen und mir nehmen, was er selbst genährt hatte. Denn ein letztes Quäntchen an schönen Empfindungen hatte ich mir bewahrt. Wann immer ich an meine Nächte in Trischen dachte, waren sie da. Ich hütete sie wie einen Schatz. Doch Colin kannte selbst die tiefsten Abgründe meiner Seele. Er würde den Schatz finden und rauben. Ich konnte nichts vor ihm verbergen.
    »Dann tu es«, hauchte ich und wunderte mich kaum, dass es wie eine Bitte klang. Es sollte endlich vorbei sein. Ich wollte keine Angst mehr haben müssen. Und doch überschwemmte sie mich in einer alles zerstörenden glutheißen Flut, als er wie eine Spinne an der Decke entlang zum Fenster krabbelte, sich die Wand hinaufschob und über das Dach kroch. Die Ziegel klapperten leise, dann war er weg.
    Jetzt konnte ich schreien. Meine Stimme gehorchte, denn ich schrie um mein Leben - zu spät, verzögert, sinnlos. Wäre ich nicht aufgewacht, hätte er es getan. Colin hätte mich befallen. Dann wäre ich jetzt schon tot gewesen. Tillmann war sofort bei mir. Er roch schwach nach Haschisch.
    »Er ist da gewesen!«, heulte ich schlotternd. »Über mir an der Decke! Er hing an der Decke, wollte sich auf mich fallen lassen

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