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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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immer noch bei Grischa. Er war meinetwegen in die Schule gekommen. Meinetwegen ...
    »Scheint ja ein schöner Traum gewesen zu sein.«
    Ich nickte abwesend und zerrte mir ein Unterhemdchen über den Kopf. Was hatte Papa gesagt - Träume würden nur wenige Sekunden lang andauern? Das konnte nicht sein. Dieser Traum hatte begonnen, nachdem ich während Tillmanns Massage eingeschlafen war, und bis eben angehalten, bis zum frühen Nachmittag, obwohl ich nicht einmal fünf Minuten lang mit Grischa geredet hatte. Genau das war das Geheimnis dieses Traumes. Zeitlupe. Minuten waren wie Stunden gewesen. Ich hatte mich unendlich lange in dem glücklichen Gedanken suhlen können, dass Grischa mich meinte -und ich musste herausfinden, wobei er meine Hilfe brauchte. Der Traum war so klar und so echt gewesen - wie eine Vision. Vielleicht gab es wahrhaftig etwas, wobei nur ich Grischa helfen konnte. Und dadurch würde er womöglich endlich verstehen, was er mir bedeutet hatte.
    Wenn das alles hier vorbei war, musste ich ihn suchen. Jeder Mensch hinterließ Spuren. Ich würde ihn finden. Alles würde sich klären.
    Mit diesem Gedanken ertrug ich sogar Lars’ Quälereien, der heute ausnehmend sadistisch aufgelegt war. Doch ich beklagte mich kein einziges Mal. Auch dann nicht, als er mich mit der Lederpratze durch die Halle trieb und zu Tritten und Schlägen nötigte, bis mir erneut das Blut aus dem Mund lief. Ich kostete es sogar ein wenig aus. Ich wollte bis zur Erschöpfung trainieren, wollte gefordert werden, von mir aus überfordert, meine Energie bündeln und das Letzte aus mir herausholen.
    Den finalen Tritt setzte ich absichtlich neben das Polster - nämlich direkt auf Lars’ Hüfte. Überrumpelt kippte er zu Boden, und ehe er sich aufrappeln konnte, hatte ich sein Bein verdreht und seinen Kopf zur Seite gerissen. Schachmatt. Dann ließ ich wortlos von ihm ab, verbeugte mich und lief in die Umkleidekabine. Fünf Minuten später begann nebenan die Dusche zu rauschen, diesmal jedoch ohne frauenfeindliche Witze.
    Ich trat ein, ohne zu klopfen. Erschrocken fuhr Lars herum, ein Gorilla im Dampf und über und über mit blau glitzerndem Duschgel eingeschäumt.
    »Oh«, sagte ich betont überrascht und ließ meine Augen auf seiner Mitte ruhen. »Doch so klein?«
    Grollend grapschte er nach einem Handtuch, um es sich in Windeseile und ziemlich unkoordiniert um seine Hüften zu wickeln. Der Gorilla schämte sich.
    »Was willst du, Sturm?«, fragte er schroff. Er griff nach hinten, um das Wasser abzudrehen.
    »Mich verabschieden. Ich habe heute Abend einen Kampf und ich weiß nicht, ob ich ihn überleben werde.« Ich wunderte mich über meine eigene Ruhe.
    »Du ... was?« Lars ging einen Schritt auf mich zu. Seine breiten, behaarten Füße hinterließen kleine Schaumseen auf dem schmutzigen Boden.
    »Richtig verstanden. Ich habe einen Kampf. Einen gefährlichen Kampf.« Ich wich seinem fragenden Blick nicht aus.
    »Gegen einen Typen? Ist dir jemand zu nahe gekommen? Irgendein Assi? Soll ich ihn ...?«
    »Nein. Nein, ich mache das. Jedenfalls werde ich dabei sein. Und es kann sein, dass ich - du weißt schon. Nicht überlebe. Deshalb wollte ich Tschüss sagen.«
    Ich streckte ihm meine Hand hin. Lars glotzte mich ungläubig an, während der See zwischen seinen Füßen immer größer wurde und das Handtuch mit einem leisen Rascheln von seinen Hüften rutschte. Er streckte seine Pranke danach aus, aber seine Reaktion kam zu spät. Es fiel zu Boden. Seine Nacktheit schien ihn jedoch nicht mehr zu interessieren. Denn er begann zu begreifen, dass ich es ernst meinte. Nach einem sehr langen und stillen Moment nahm er zögerlich meine Hand. Sein Griff war erstaunlich zart, beinahe schüchtern.
    »Dann mach ihn fertig, Stürmchen«, sagte er mit rauer Stimme. Ich wartete, bis er meine Hand freigab - es dauerte einige Sekunden, in denen wir uns stumm anschauten und zum ersten Mal nicht dabei verabscheuten -, drehte mich um und verließ die Halle. Beschwingt lief ich zum Auto.
    »Der war nur so klein, weil ich kalt geduscht hab!«, brüllte es aus dem Fenster der Umkleidekabine und ich lachte leise auf. Ja, klar.
    Und woher war dann der Dampf gekommen? Immer noch schmunzelnd schloss ich den Wagen auf.
    Ein Hauch von Glück glühte in mir. Ich musste diese Glut nur bewahren, sie schüren, am Leben halten. In Gedanken an Grischa. Sie an Paul weitergeben. François damit locken. Über den Rest würde das Schicksal entscheiden.
    Ich war

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