Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
Vom Netzwerk:
bereit.

Totentanz
    Schon bei den ersten Klängen des Abschlusssongs verwandelte sich die bitzelnde Gänsehaut auf meinem Rücken in einen eisigen Schauer. Um mich herum brandeten Jubelrufe und Applaus auf. Feuerzeuge blinkten. Menschen umarmten sich und reckten in spontaner Begeisterung ihre Hände in die Höhe. Doch ich wollte hier raus. Denn ich kannte diesen Song. Natürlich kannte ich ihn -ich hatte nur nicht mehr im Gedächtnis gehabt, dass er von Ultravox war. Ich hatte ihn ein einziges Mal gehört, doch dieses eine Mal hatte gereicht, um ihn nie wieder zu vergessen und ihn nie wieder hören zu wollen. Zu viele Erinnerungen - Gefühlserinnerungen. Sie würden zurückkommen.
    Ich wandte mich von den anderen ab und sah mich hastig nach einem Fluchtweg um. Doch die Menschen standen zu dicht beieinander, der Notausgang war zu weit weg. Ich würde der Musik nicht entkommen können. Die Bilder in meinem Kopf nahmen bereits Gestalt an.
    »Was ist los?«, brüllte Tillmann mir ins Ohr.
    »Ich will raus!«, brüllte ich zurück. »Ich muss hier raus!«
    »Aber es ist doch bisher alles super gelaufen!«
    Das war es tatsächlich. Als ich nach dem Training geduscht und umgezogen aus dem Bad gekommen war, hatte Gianna bereits erwartungsfroh im Flur gestanden, herausgeputzt und in Gönnerlaune, sodass sie mir meinen kleinen Eingriff in ihr Privatleben der
    Vergangenheit zähneknirschend verzieh. Vorerst, wie sie betonte. Um der Sache willen.
    Die Sache - Paul - hatte erst nachmittags von unserem Vorhaben erfahren, sich aber bereitwillig überrumpeln lassen. Das war eine der wenigen positiven Folgeerscheinungen seines Befalls: Er war perfekt im Passivsein. Vielleicht aber lockte ihn auch der Gedanke, Gianna wiederzusehen.
    Während Gianna mir ihren Großmut kundtat und andeutete, dass sie Marco die Drogenflucht möglicherweise eines Tages aufrichtig vergeben könne, befand Paul sich noch im Schlafzimmer und zog sich um. Das konnte dauern, weshalb Gianna sich mit mir ins Badezimmer einschloss, damit ich »etwas aus mir mache«. Mir war nicht ganz klar, was das sein sollte. Natürlich wären Jenny und Nicole rückwärts umgefallen, wenn sie mich so gesehen hätten - in einer knapp sitzenden, aber verwaschenen Jeans (Bootcut, keine unkleidsame Röhre), meinen karierten Chucks und einem eng anliegenden, weichen Kapuzenshirt) -, aber ich fühlte mich wohl darin und vor allem fühlte ich mich wie meistens nach dem Training schön. Meine Haut war bestens durchblutet und schimmerte rosig, meine Augen leuchteten und mein Mund war vollkommen entspannt. Ich brauchte kein Make-up. Gianna sah das anders. Es müsse mich schon ein bisschen mehr Glamour umwehen, wenn wir chic essen gingen - überaus symbolisch ins Schöner Leben gleich um die Ecke - und nach dem Konzert in einen Club wollten. Die ließen schließlich nicht jeden rein.
    Also schlüpfte ich in ein schwarzes, ausgeschnittenes Oberteil (aus der Jeans bekam sie mich nicht raus, selbst wenn sie sich auf den Kopf stellte), und während ich meine Wimpern tuschte und etwas Gloss auftrug, versuchte Gianna ihr Glück mit meinen Haaren, gab aber schnell auf. Sie fielen inzwischen bis weit über meine Schultern und an Giannas neidvollem Blick konnte ich erkennen, dass sie sich heimlich eine solche »Pracht« wünschte. Aber sie wusste nicht, was diese Pracht bedeutete, und ich, die es zu gut wusste, starrte nicht minder neidvoll auf ihren glänzend glatten Schopf.
    »Die Welt ist ungerecht«, konstatierte sie seufzend, zupfte meinen Ausschnitt zurecht und schob mich zurück in den Korridor. Tillmann hatte sich ebenfalls umgezogen. Es waren nur kleine Veränderungen im Vergleich zu seinem Alltagsaufzug, doch sie machten einen gehörigen Unterschied. Er trug ein dunkles Hemd zu seinen gewohnt lässigen Hosen und hatte die Sneaker gegen ein Paar stylishe Boots ausgetauscht. Ich hatte ihn noch nie in einem Hemd gesehen und der Anblick war ebenso irritierend wie berückend. Er sah verwegen aus, weil das Hemd nicht zu seinem Straßenjungencharme passte. Man wollte es ihm sofort wieder ausziehen.
    »Okay«, sagte er gedehnt, als er uns erblickte, und seine Mandelaugen blieben eine Sekunde länger an mir hängen als üblich. »Vielleicht erneuere ich mein Angebot von gestern Abend doch noch einmal.« Er zwinkerte mir aufgeräumt zu.
    Gianna blickte verwirrt von einem zum anderen. »Hab ich was verpasst?«, fragte sie neugierig. »Habt ihr doch etwas ...?«
    Doch nun stieß Paul zu uns und sein

Weitere Kostenlose Bücher