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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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weg.
    »Macht das ohne mich heute Abend«, lallte ich mühsam. »Ich bin euch keine Hilfe. Mir tut alles weh. Ich hab keine Energie mehr. Gar keine.«
    »Ich glaub, du spinnst.« Tillmann schnaubte. »Jetzt schlappmachen? Nee. Setz dich mal ans Fenster, ich bin gleich wieder da.«
    Seufzend schob ich mich auf meinem Stuhl ins Sonnenlicht, obwohl ich keine Ahnung hatte, was für einen Sinn das haben sollte, zumal die Helligkeit mein tiefes Bedürfnis, die Augen zu schließen, nur noch verstärkte. Tillmann kam mit einem kleinen Fläschchen samt Pinselchen zurück.
    »Was ist das?« Skeptisch beäugte ich die trübbraune Flüssigkeit. Doch Tillmann hatte schon die Daumen auf meine Kiefergelenke gedrückt. Ich musste den Mund öffnen, ob ich wollte oder nicht.
    »Stillhalten«, befahl er und begann, meine Wunde zu bepinseln, während ich ihm am liebsten sämtliche Familienhoffnungen zerstört hätte. Mein Knie zuckte schon und nur der lodernde Schmerz bewahrte mich vorm Zutreten, weil er mich nach und nach am ganzen Körper lahmlegte. Tillmann feixte belustigt. »Ich weiß, das Zeug brennt, aber es ist echt gut. Wird dir helfen. Und du kommst mit heute Abend. Keine Widerrede.«
    »Tillmann, ich kann nicht.« Ich merkte, dass ich sabberte, und wischte mein Kinn ab. Die Tinktur schmeckte scheußlich. »Ich kann meinen Hals nicht bewegen, hab Kopfschmerzen und meine Schulter ... Außerdem hab ich heute Abend noch einmal Training und ...«
    »Aha. So willst du also trainieren? Aber ein Essen und ein Konzert, das geht nicht? Klingt nicht besonders logisch«, stellte Tillmann belustigt fest. Statt einer Antwort gähnte ich - ein wimmerndes Gähnen, da mein Kiefer sich beinahe verhakte und die Zähne von Neuem die entzündete Stelle aufrissen. Tillmann musterte mich eine Weile, als sei ich eine Mathematikgleichung, die es zu lösen galt. Ja, er wirkte, als würde er rechnen. Und ich war nur mäßig auf das Ergebnis gespannt.
    »Okay. Dann leg dich ins Bett und zieh schon mal dein Oberteil aus.«
    »Spinnst du?«, fuhr ich ihn an und bereute es im gleichen Augenblick. Aufheulend griff ich an meine Wange. »Das wäre Schändung! Außerdem hab ich dir gesagt, dass ich das nicht will! Ich geh nicht mit jemandem ins Bett, der mich nicht hübsch findet!«
    »Ich hab nie behauptet, dass ich dich nicht hübsch finde. Du bist nur nicht mein Typ Frau. Und ich hab nicht vor, mit dir zu schlafen.
    Dir läuft brauner Sabber aus dem Mund. Das ist nicht besonders sexy.«
    Grummelnd stand ich auf und tat, wie geheißen, denn mir war langsam alles egal. Wenn ich nur liegen konnte, ohne mich rühren zu müssen, sollte er tun und lassen, was er wollte. Unter derbsten Flüchen stülpte ich mein Pyjamaoberteil über den Kopf und bettete mich abwartend auf den Bauch. Ich schnappte nach Luft, als Tillmann sich mit seinem ganzen Gewicht auf meinen Hintern schob. Er war schwer. Doch ohne Zweifel korrekt gekleidet. Und was er dann mit mir zu tun begann, fühlte sich so schmerzhaft und schön zugleich an, dass ich ein genüssliches Stöhnen nicht unterdrücken konnte.
    »Du solltest das beruflich machen«, bemerkte ich mit einem debilen Lächeln, während seine Finger über die verhärteten Stellen unterhalb des Schultergelenks tasteten und sie sorgsam weich zu kneten begannen.
    »Klappe halten«, wies er mich zurecht. »Sonst funktioniert das nicht.« Ja. Klappe halten war jetzt ausnahmsweise das Beste. Ich schloss meine Augen und ließ mich in das Dunkel meines Innenlebens hinabsinken, lauschte in meinen Körper hinein, der sich Berührung für Berührung von seinen Qualen zu erholen begann und dem Schlaf seinen Weg ebnete - einem befreiten und angenehm warmen Schlaf, der ab der ersten schwerelosen Sekunde von Träumen begleitet war.
    Es waren kurze Sequenzen aus meiner Vergangenheit, die ich anfangs nur vor mir sah, ohne daran teilzuhaben. Ich beobachtete Szenen aus meiner Schulzeit in Köln, teils erschrocken, teils mitfühlend, teils erheitert, aber nie befand ich mich in Gefahr, Anteil daran zu nehmen. Ich war die Beobachterin meines eigenen Lebens und so schlecht hatte ich mich dabei gar nicht geschlagen. Manchmal musste ich tadelnd den Kopf schütteln, wenn ich mich an-schaute, wie ich mitmischte und schauspielerte und heimlich litt, aber ich verzieh es mir. Es war mein Weg gewesen - mein Weg, mich zu schützen.
    Doch dann war ich auf einmal wieder mittendrin - in dem Moment, als ich in einen weiteren Klassensaal schwebte und auf Andi traf.

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