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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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Das wird alles wieder heilen. Es ist nur Haut. Abgestorbenes Gewebe.
    Mein Nacken knirschte, als ich meinem eigenen Zureden folgte, obwohl ich gar nicht mehr wusste, ob ich überhaupt noch lebte. Ich begann bereits zu verwesen, überall. Ich spürte es. Wimmernd hob ich meinen Kopf und sah direkt in François’ Augen - verkehrt herum, wie damals auf der Leinwand. Doch diesmal roch ich ihn, roch den grünlichen Speichel, der in dicken Schlieren über seine aufgequollenen Tränensäcke troff und sich in seinen Haaren verfing. Sein gieriger Mund verzog sich zu einem vernichtenden Grinsen. Silberfischchen wuselten in seinem Kragen und setzten über die modrigen, nach unten baumelnden Mantelärmel auf Pauls nackte Brust über. Für einen Moment folgte ich ihren flirrenden Panzern und beobachtete entsetzt, wie sie in seine Nasenhöhlen flüchteten und sich unter seine Lider schoben.
    François begann zu lachen, ein schmieriges, feuchtes Lachen, das mir durch Mark und Bein fuhr und das zerstörerische Pochen in meinem rechten Auge neu anfachte. Mit einem schleimigen Glucksen beendete er sein Gelächter und schob sich dicht vor mein Gesicht. Auch in seiner Nasenhöhle krabbelten Silberfischchen.
    »Du«, gurgelte er höhnisch und seine Stimme klang vollkommen anders, als ich sie jemals zuvor gehört hatte. Dumpf und kehlig. Er hatte sie immer verstellt - das war es gewesen, was mir so unter die Haut gegangen war und mir stets das Gefühl gegeben hatte, dass etwas nicht stimmte. Es hatte so vieles nicht gestimmt.
    »Du wirst die Nächste sein. Und du wirst es nicht einmal merken.«
    »Träum weiter, Richard Latt«, erwiderte ich blubbernd und verschluckte mich beinahe an einem zähen Schleimklumpen, der sich beim Sprechen aus meiner Kehle löste. Tapfer zwang ich ihn in meinen Magen hinunter.
    Mit einem schmatzenden Geräusch ließ François sich fallen, drehte sich in der Luft um die eigene Achse und schlang seine Arme und Beine um Pauls schlafenden Körper. Wirbel knackten, als François seine Klauen in Pauls Rücken krallte und zu trinken begann, in langen, saugenden Zügen, seine Lippen auf Pauls gewölbte Brust gedrückt und den zuckenden Unterleib wie ein sich paarendes Insekt an Pauls Lenden gepresst.
    Hilflos stand ich neben dem Bett und begriff, dass ich nicht das Geringste tun konnte. Immer wenn ich nach vorne fassen und François packen wollte, fiel meine Hand kraftlos zurück. Meine Gelenke schienen aus purem Gallert zu bestehen, das nur noch François’ Gesetzen gehorchte, nicht aber meinen. Konnte ich nicht wenigstens Paul berühren? Ihm noch einmal über die Wange streichen - ihm ein Stück Menschlichkeit schenken?
    Doch auch das verwehrte François mir. Meine Finger, die inzwischen mit weißlichen Rillen überzogen waren, als habe ich stunden lang in der Badewanne gelegen, blieben in der Luft hängen, bevor mein Schultergelenk sie mit einem widerwärtig schlüpfrigen Geräusch zurück nach unten beförderte. Ich war François’ Marionette.
    Dann setzte mit einem Mal das Knurren und Grollen ein, eiskalt und so zornig, dass die Ratten kreischend das Bett verließen und um die Ecken des Zimmers stoben.
    »Colin«, hauchte ich flehend, als seine lange, elegante Gestalt am
    Fenster auftauchte. Der Speichel überflutete meinen Mund. Unzählige winzige Füßchen krabbelten eilig über meine Zunge. »Tu uns nichts ... bitte ... «
    Doch er reagierte nicht auf mich und sein Gesicht konnte ich nicht erkennen, nicht einmal seine Augen. Lautlos sprang er François an, riss ihn von Paul weg und wirbelte ihn in der Luft herum. Ineinander verbissen und verknäult schossen sie auf das offene Fenster zu. François’ gutturales Brüllen schallte durch die Nacht, als sie klatschend ins Wasser fielen. Die Ratten folgten ihnen fiepend. Auch die Silberfischchen verließen Pauls und meinen Körper und verschwanden in den Fugen des Parketts.
    Ich durchbrach meine Erstarrung und torkelte zum Fenster. Das Fleet lag unberührt unter mir. Aber sie waren doch eben erst hinuntergesprungen, in den Kanal - wo waren sie? Warum hörte ich sie nicht? Schwammen sie? Aber selbst das musste zu sehen oder zu hören sein. Die Fleete waren nicht tief; der Pegel sank, da die Ebbe kam. War das etwa schon alles gewesen? Ich blickte mich um. Doch der Nebel war so dicht geworden, dass ich nur bis zur nächsten Hauswand schauen konnte.
    Vollkommene Stille breitete sich aus - kein Kampfeslärm, keine Wassergeräusche, kein Gurgeln oder Schmatzen. Nur

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