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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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Tillmanns EC-Karte auf meine Handfläche, öffnete das Fenster und pustete es in die feuchte, kühle Nachtluft hinaus. Ich brauchte es nicht. Ich hatte mich auf meine ganz eigene Weise vorbereitet - und meine Methoden waren schmerzhafter und brutaler als ein Näschen Kokain. Aber sie machten garantiert nicht süchtig.
    Ich stellte den Behälter mit meinen Kontaktlinsen vor mir auf den Schreibtisch. Ich hatte sie in den vergangenen Tagen nicht eingesetzt, denn seit meiner letzten Begegnung mit Colin waren meine Augen wieder besser geworden. Das Training hatte das Übrige dazu beigesteuert. Doch heute Nacht würde ich eine von ihnen tragen. Nur - welche? Ich hatte beide in ihrer neuen Aufbewahrungslösung baden lassen, da ich mich nicht hatte entscheiden können, und nun dachte ich erneut angestrengt darüber nach.
    Auf dem linken Auge sah ich wesentlich schlechter als auf dem rechten. Meine Logik sagte mir, dass ich sie dort einsetzen sollte. Aber ich hatte das Gefühl, dass mein linkes Auge mehr und intensiver wahrnahm als das rechte - Dinge, die ich nicht sehen, sondern nur fühlen konnte. Es lag näher an meinem Herzen, war unbrauchbar für Details, aber unverzichtbar für meine Instinkte. Es sollte intakt bleiben. Ungetrübt.
    Also musste das rechte Auge daran glauben. Meine rechte Körperhälfte war Kummer gewohnt. Ich hatte mir rechts die Mundschleimhaut aufgebissen, die Schulternerven gequetscht, nach der Bronchitis hatte sich die rechte Lunge viel später als die linke erholt, die Narbe des letzten Kampfes prangte am rechten Bein, und wenn mich Kopfweh plagte, dann immer zuerst an der rechten Schläfe.
    Doch noch hielt sich meine Müdigkeit in Grenzen. Ich hatte heute Abend genug von all dem konsumieren dürfen, was mir schon früher den Schlaf geraubt und mich bis zum Morgengrauen wach gehalten hatte. Zu reichliches Essen, Menschenmassen, schlechte Luft, laute Musik, ein unverhoffter Kuss. Fremde Lippen auf meinen. Mein Verstand lief auf Hochtouren, um all diese Eindrücke zu bewältigen, einzuordnen und zu sortieren. Ich hatte meine Sinne überreizt, aber zum ersten Mal in meinem Leben begrüßte ich es.
    Die Minuten schlichen zäh dahin. Ich konnte kaum glauben, dass meine Uhr erst kurz nach Mitternacht anzeigte. Aber er würde heute früher angreifen. Wir hätten nicht länger bleiben dürfen. Es war ein rasantes Programm gewesen, das wir absolviert hatten, rasant und erfüllend. Und wir hatten es genau dann beendet, als es am schönsten gewesen war.
    Nun schliefen alle außer mir. Weil er sich näherte. Ich hatte es schon gespürt, bevor Gianna in sich zusammengefallen war. Es war diese einschüchternde Stille, die sich wie eine unsichtbare Wand auf uns zuschob, gefolgt von dichtem, kaltem Nebel und dem Geruch nach Aas. Sie schnitt all die anderen Menschen dieser riesigen Stadt von uns ab, isolierte uns, damit niemand bemerkte, was hier gleich passieren würde. Jetzt erlosch die kunstvolle Beleuchtung der Häuser um uns herum; lautlos fiel ein Spot nach dem anderen aus, bis nur noch die Laternenkegel auf den Brücken einen viel zu schwachen Schimmer auf das Wasser schickten. Ich schlüpfte aus meinen Schuhen, weil ich mich barfuß sicherer fühlen würde.
    Es wäre so leicht gewesen, mich ebenfalls dem Schlaf zu unterwerfen. Jeder wünschte sich heimlich, im Schlaf zu sterben. Tillmann und Gianna würde es vielleicht vergönnt sein. Und Paul ... Nichts ahnend würde er seinen letzten Atemzug tun, nachdem er noch einmal glücklich und zufrieden hatte sein dürfen.
    Doch ich wollte bei ihm sein, wenn es geschah, und ich wollte Colin ins Auge sehen, sobald er das wahr machte, was ich schon so lange fürchtete. Mich töten. Er sollte meiner gewahr werden, während er zur anderen Seite überlief und mit François den Geschwisterdoppelmord vollbrachte. Aus Rache an den Vorhaben meines Vaters. Aus Rache an mir. Wir sollten vernichtet werden.
    Oder irrte ich mich? Würde er sein Versprechen in die Tat umsetzen und versuchen, meinen Bruder zu retten, sein eigenes Leben dabei gefährden?
    Eine weitere Schwade Leichengeruch wehte ins Zimmer, doch dieses Mal ekelte sie mich nicht an, sondern ließ meine Lider schwer werden. Das leise, rhythmische Plätschern des Wassers, das tausendfach von den hohen Hauswänden widerhallte, vereinigte sich wohl klingend mit dem Rauschen in meinen Ohren und dem warmen Strömen meines Blutes, lullte mich ein ... eine betörende Hymne an meine Träume.
    Glatt und kühl schmiegte sich

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