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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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das Holz der Schreibtischplatte an meine Wange, als mein Kopf nach unten sackte und liegen blieb. Oh, es tat so gut, die Augen zu schließen. Wer brauchte schon einen Körper? Der Tod war die einzige Freiheit, die uns jemals vergönnt war. Keine Angst mehr haben. Keine Sorgen. Keine Panik, einen geliebten Menschen zu verlieren. Denn der Tod ließ keine Liebe mehr zu. Ihm war gleichgültig, wer ging und blieb.
    Meiner Nase allerdings war noch nicht alles gleichgültig. Messerscharf unterschied sie zwischen Aas und Pfefferminzöl - hochkonzentriertem, reinem Pfefferminzöl, dessen beißendes Aroma sich brennend auf ihre Schleimhäute legte. Mit knirschenden Zähnen griff ich in meine Haare und zerrte meinen Kopf nach oben. Meine Hände fühlten sich wie abgestorbene Fleischklumpen an, die nichts mehr mit dem Rest meines Körpers zu tun hatten. Mit tauben Fingerspitzen suchte ich nach der Linse. Als ich sie endlich zu fassen bekam, glitschte sie aus dem Pfefferminzöl und auf den Schreibtisch, mit der Wölbung nach oben - ich musste sie frisch benetzen ... nur einmal noch ...
    Er schob sich bereits die Hauswand hoch. Ich hörte deutlich, wie seine Krallen über die feuchten Steine wetzten. Die Atemgeräusche von Tillmann und Gianna verklangen, doch mit einem kurzen Blick - meinem letzten schmerzfreien - vergewisserte ich mich, dass sich ihre Oberkörper sanft hoben und senkten. Ein monströses Gähnen brachte mich zum Würgen, weil ich es zu unterdrücken versuchte, und gleich darauf näherte sich das nächste. Ich musste es tun. Sofort. Ich wollte tief Luft holen, um mir Mut zu machen, aber es war nur ein gequältes Keuchen, da der Verwesungsgestank mich sonst zum Erbrechen gebracht hätte. Hustend setzte ich die Linse auf meine Hornhaut. Im Nu saugte sie sich fest.
    Mit einem heiseren Stöhnen rutschte ich zu Boden. Tränen spritzten aus meinem Auge und überzogen die Dielen mit einem feinen salzigen Sprühregen, doch sie vermochten nicht, die Linse wieder zu lösen. Und erst recht nicht das Öl. Es würde dauern, bis diese Qualen aufhörten, das wusste ich. Einmal war es mir versehentlich passiert und ich hatte geglaubt, wahnsinnig zu werden. Ich hatte meine Augen minutenlang unter den eiskalten Wasserstrahl gehalten, doch es hatte nichts genützt. Damals hatte ich mir nur mit der Fingerspitze einen Hauch Öl in den Augenwinkel gerieben, mehr nicht. Heute aber hatte meine Linse einen halben Tag lang im Pfefferminzöl gebadet. Es musste mir helfen, auch wenn ich dabei mein Augenlicht verlor. Ich hatte immer noch meine linke Seite.
    Auf allen vieren und eine dünne Tränenspur hinterlassend kroch ich zur Tür und stemmte mich auf die Beine. Ich versuchte, mein brennendes Auge geschlossen zu halten, doch meine Reflexe zwangen mich zum Blinzeln. Auch daran hatte ich gedacht. Die Augenklappe hatte ich mir heute Nachmittag noch in einem dieser St.-Pauli-Touristenshops gekauft, in denen haufenweise alberner Seemannskram verscherbelt wurde. Piraten waren en vogue. Ich zog sie rasch über den Kopf. Meine Tränen fanden wie immer ihre Wege, durch den Stoff hindurch, doch es gelang mir, mein linkes Auge offen zu halten, während mein rechtes sich vor Qualen nach innen verdrehte.
    Jetzt begann auch meine Brust zu rasseln - jenes Rasseln, das ich bei Paul in den letzten Tagen immer öfter wahrgenommen hatte. Ich musste mich räuspern und ausspucken, um weiteratmen zu können. Der Schleim aus meiner Kehle klatschte klumpig auf den Boden, durchzogen von schwarz geronnenem Blut. Es griff auf mich über ...
    Als ich meine Finger auf die Klinke von Pauls Tür legte, verfärbten sich meine Nägel gelblich. Leichenhände. Ich drückte sie langsam hinunter und meine Haut gab ein Geräusch von sich wie ein Schwamm, der sich mit Wasser vollgesogen hatte. Meine Hand rutschte ab, doch die Tür öffnete sich.
    François hing bereits über Paul an der Zimmerdecke und kostete den Hunger aus, ein wenig noch, bis die Gier zur Lust wurde und er nicht anders konnte, als sich in seinem Fressrausch zu verlieren. Nun troffen auch meine nackten Fußsohlen vor schleimiger Nässe und wollten sich auf dem Parkett festsaugen, um mich aufzuhalten. Mit letzter Gewalt und einem gurgelnden Schrei, der tief in meinen
    Lungen kleben blieb, löste ich sie und sah angewidert dabei zu, wie Hautreste am Boden haften blieben. Die Ratten huschten darauf zu und begannen, sie von den Dielen zu fressen.
    Nicht hingucken, Ellie. Schau nach oben. Lass dich nicht ablenken.

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