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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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mein Atem, der sein Ringen gegen den Schleim langsam gewann und Sauerstoff zurück in meine Adern transportierte.
    Nur mein Atem. Kein anderer. Kein anderer? Aber ...
    »Paul!«
    Ich schüttelte, streichelte, küsste und schlug ihn, doch seine Brust blieb stumm und reglos. Das Blut aus meinem rechten Auge floss über meine Wange und tropfte auf seine helle Haut.
    »Paul, atme! Du musst atmen! Tillmann! Gianna! Wacht auf! Bitte wacht auf! Schnell!«
    Heulend rannte ich zu ihnen und trat sie mit beiden Füßen, bis sie zu sich kamen.
    »Paul stirbt! Tut doch etwas!«
    »Gott, Ellie, wie siehst du denn aus?«, murmelte Tillmann, bis er kapierte, was ich sagte. Gianna war schneller von Begriff und wankte bereits zu Pauls Schlafzimmer hinüber. Als ich nachkam, hatte sie schon mit der Herzmassage begonnen.
    »Mach Mund-zu-Mund-Beatmung!«, schrie ich. »Du hast ihn geküsst, also wirst du ihn wohl auch beatmen können!«
    »Ja, nur sollte ich vielleicht erst seinen Herzmuskel in Gang bringen!«, giftete sie. »Beides gleichzeitig geht nicht!«
    »Wo ist deine Handtasche?«, fragte Tillmann sie mit erzwungener Ruhe.
    »Warum denn Handtasche?«, rief ich verzweifelt.
    »Wer ein Pfefferspray hat, hat auch einen Elektroschocker«, entgegnete er gereizt. »Und vielleicht brauchen wir den jetzt! Warum machst du eigentlich nichts, Ellie?«
    Er stieß mich beiseite, um in den Korridor zu rennen und die Garderobe zu durchwühlen. Taschen und Schals fielen zu Boden.
    »Die schwarze Ledertasche, vorderes Fach«, brüllte Gianna. »Ja, Ellie, warum nicht? Warum stehst du da rum wie ein Ölgötze?« Sie beugte sich über Paul und blies ihm rhythmisch Luft in seinen weit geöffneten Mund. Gut, dass sie nichts von den Silberfischchen wusste. »Und warum rufen wir eigentlich keinen Krankenwagen?«, setzte sie schnaufend hinzu.
    »Weil er nicht bis zu uns durchkäme«, sagte ich leise, aber sehr gewiss. »Er hätte einen Unfall. Glaub mir. Und ich tue deshalb nichts, weil ich auf meinen Einsatz warte.«
    Denn so war es. Das war nicht alles gewesen. Noch lange nicht.
    Sondern erst der Auftakt. Und da erreichte er mich auch schon, rein
    und samten. Ein drohender, unmissverständlicher Befehl.
    »Komm zu mir.«
    Wie durch einen Schleier sah ich Tillmann zu, der Paul den Elektroschocker auf die Brust setzte und kurz zudrückte. Das Bett bebte als Pauls Oberkörper sich nach oben bäumte und wieder erschlaffte. Ich empfand nichts dabei. Gar nichts. Gianna drehte sich mit verzerrtem Gesicht zu mir herum.
    »Was ist los, Ellie? Hilf uns endlich!«
    »Nein. Ich muss zu Colin. Er ruft mich.«
    »Mach weiter«, herrschte Tillmann Gianna an. »Ich glaube, er hat eben geatmet. Sein Herz muss wieder zu schlagen anfangen!« Dann sprang er vom Bett, packte mich am Kragen und schleuderte mich gegen die Wand. »Was redest du da? Welcher Einsatz?«
    »Er ruft mich. Ich muss zu ihm. Jetzt. Es ist wichtig. Es muss sein.« Ich fing an zu schlottern, doch meine Worte klangen klar und vernünftig, obwohl ich genau wusste, dass sie das nicht waren.
    »Wer hat dich gerufen? Wer?«
    »Mein Sensei«, antwortete ich mechanisch. »Colin. Er ruft mich zum Sterben.«
    Tillmann ließ abrupt los. Ein kurzes Leuchten glomm in seinen Augen auf. Ich richtete mich auf und zog mein T-Shirt zurecht, wie ich es im Training immer mit dem Oberteil meines Karateanzugs getan hatte. Ich senkte meine Lider, ballte meine Fäuste. Konzentrierte mich. Kampflos würde er mich nicht bekommen.
    »Dann geh«, flüsterte Tillmann.
    »Ich möchte nicht sterben. Noch nicht. Ich will wirklich nicht. Aber ich ...«
    »Ich weiß. Du musst. Du musst gehen. Also geh!« Er trat einen Schritt zurück, als wolle er mir den Weg frei machen. »Geh, Ellie!«
    »Nein! Elisa, nein! Bleib hier! Um Gottes willen, Elisa!«, gellte Giannas Stimme durch die Wohnung, doch ich war schon über den Flur gejagt und huschte geräuschlos wie ein Geist die Treppen hinunter.
    Ich sah meinen Weg genau vor mir. Vom Alten Wandrahm bis zur Dienerreihe, dann auf die Mitte der Brücke über dem Fleet. Dort würde er mich abholen. Der Tod.

Wasserschlacht
    Erst als der Nebel so undurchdringlich wurde, dass ich kaum mehr meine Hand vor Augen sehen konnte, schwand meine mir so befremdliche Ruhe, um Platz zu schaffen für eine nie zuvor gekannte Angst. Es war Todesangst - und zwar absolut berechtigte Todesangst. Kein abstraktes Gefühl, sondern Gewissheit. Ich würde sterben.
    Ich hätte mich umdrehen und an der Backsteinwand

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