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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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entlang zurücktasten sollen, bis ich das Haus erreichte, in dem Paul wohnte, in den Aufzug springen, nach oben fahren und die Tür verrammeln mit allen Möbeln, die ich finden konnte. Mich irgendwo verkriechen und einschließen. Am besten in die Besenkammer der Küche. Oh, ich wusste, dass das ausgemachter Blödsinn war. Niemand war leichter zu töten, als wenn er in einem engen Versteck hockte. Er machte es seinem Mörder denkbar einfach. Ich hatte mich oft über Horrorfilme mokiert, in dem die Opfer genau das taten. Aber jeder Schritt nach vorne, ins Unbekannte hinein, ließ mich innerlich aufschreien, weil er mich fort von allem Vertrauten und Geborgenen führte - fort von meiner Familie.
    Der Nebel waberte unaufhörlich, bildete Strudel und Schlieren vor meinen weit geöffneten Augen. Er verschluckte jedes Geräusch, selbst das meiner nackten Füße auf dem feuchten Boden. Sogar mein Atem war nicht mehr zu hören.
    Ich weinte hemmungslos, als ich auf die Brücke zusteuerte und
    die Straße verließ, um mich wieder dem Wasser zu nähern. Ich brauchte mich nicht darum zu bemühen, mein Schluchzen zu unterdrücken. Mir war klar, dass sie mich längst geortet hatten. Sie sahen im Dunkeln wie Raubtiere - sie mussten auch im Nebel sehen können. Und wenn nicht, würden ihr Instinkt und ihre Gier sie zu mir leiten.
    Meine eigenen Sinne hingegen schienen verödet zu sein. Ich sah nichts, hörte nichts, auch die Kälte unter meinen Sohlen fühlte ich nicht. Ich hoffte nur, dass es nicht zu lange dauern und ich schnell das Bewusstsein verlieren würde - aber nicht so schnell, dass ich Colin nicht mehr anblicken konnte. Ja, er war ein Mahr, geschaffen zum Rauben und Töten, und er würde kein Mitleid empfinden. François erst recht nicht. Vielleicht machte es für Colin keinen bedeutsamen Unterschied, ob er mir vorher noch ins Gesicht sah oder nicht. Doch für mich machte es einen Unterschied. Ich besaß eine grandiose Einbildungskraft. Sie würde mir helfen, mich selbst glauben zu machen, dass ich ihn liebte. Und er mich. So würde es mir leichter fallen - und ihm ein bisschen schwerer, denn er konnte meine Gedanken lesen.
    Nun hatte ich die Mitte der Dienerreihe über dem Wandrahmsfleet erreicht. Ich stellte mich exakt zwischen die Geländer. Wohin mein Hinterkopf zeigte, war egal, denn sie würden von beiden Seiten kommen und mich einkesseln.
    Colin tauchte als Erster aus dem Nebel auf, um sich mir in einem fast lasziven Schlendergang zu nähern. Ihm wollte ich lieber entgegenschauen als François, der sich von hinten an mich heranpirschte, obwohl das bedeuten konnte, dass sich François auf meinen Rücken krallen und mir meine Seele nehmen würde, ja, dass er es war, der mir den Todeskuss versetzte.
    Nicht kampflos, Ellie. Auf keinen Fall kampflos. Ich begab mich in Position, die Beine leicht gegrätscht, die Arme angewinkelt, aber am Körper, den Nacken gespannt. Bei mehreren Gegnern immer abhauen und Fersengeld geben, hatte Lars mir eingetrichtert. Schnell so viel Schaden anrichten wie möglich und dann nichts wie weg. Er hatte von Menschen geredet, nicht von Mahren.
    Trotzdem schnellte meine Faust nach vorne, sobald Colin nah genug kam, um einen Treffer landen zu können, und ich ließ sie mit voller Wucht auf seinen Solarplexus krachen. Meine Hand prallte an seiner Brust ab, als hätte ich gegen eine steinharte Lederpratze geschlagen, und ich spürte, wie der Knochen meines Mittelfingers splitterte. Der Schmerz machte mich so unfassbar wütend, dass ich fauchend aufbrüllte. Plötzlich war alles wieder da - der Zorn, die Angst, das Misstrauen und obenauf eine ordentliche Portion blanker Hass.
    Er reagierte nicht. Er musste es nicht. Ich hatte ihn nur gekitzelt. Ungerührt lief er weiter, gemächlich und zielsicher. Er wollte zu François. Ich drehte mich geschmeidig um mich selbst und knallte ihm meine Fußkante in den Nacken. Jeder andere wäre jetzt gestürzt, wäre wenigstens getaumelt. Doch Colin schüttelte mich ab wie eine lästige Fliege, bevor er locker ausholte und mich mit einem brutalen Tritt in den Magen aus der Balance riss. Trotzdem spannte ich meine Muskeln an, wie Colin es mir beigebracht hatte. François lachte gehässig und sofort legte sich der Aasgeruch aus seinem Mund über mein Gesicht. Ehe mein Rücken gegen das Geländer krachte, ließ ich mich nach vorne fallen, landete auf allen vieren und übergab mich auf den nassen Asphalt.
    Nicht kotzen, wenn du kotzt, kannst du dich nicht verteidigen,

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