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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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Wahrscheinlich war es mir aus der Hand gesegelt, als ich die Transportboxen auf meine Arme gestapelt hatte. Trotzdem setzte ich alle Hoffnungen in Paul, dass er mir den Volvo samt Koffer, Aquarien und Terrarien zurückbringen würde.
    Nach zwei Stunden penibelster Wohnungsbesichtigung - und die Wohnung war nicht sonderlich weitläufig - war mir endgültig klar, dass die männlichen Mitglieder der Familie Sturm einen deutlichen Hang zur Geheimniskrämerei pflegten. Ich hatte Papas Schlüssel nirgendwo finden können und noch weniger hatte ich Hinweise auf das entdeckt, was Paul eigentlich den lieben langen Tag über trieb. Ich fürchtete, dass er das Medizinstudium an den Nagel gehängt hatte. Es standen zwar Bücher und Ordner mit Vorlesungsmitschriften in seinem Zimmer, doch sie wirkten unbenutzt und die letzten Einträge waren älter als ein Jahr. Warum er das Studium aufgegeben hatte, blieb mir schleierhaft, ebenso, womit er das Geld verdiente, mit dem er sich all die Luxusgüter kaufte, die sich in seinem Schlaf- und Wohnzimmer stapelten - allem voran mindestens dreißig Uhren namhafter Hersteller sowie eine ominöse Sammlung Chill-out-CDs (Chill out! Paul und Chill out?). Der Porscheschlüssel in der Silberschale, die ihm zur Aufbewahrung von Krimskrams und einigen Münzen diente, war mir ebenfalls nicht entgangen. Dazu etwas Schmuck, teure Elektrogeräte, ein nagelneuer Apple-Computer, Spielekonsolen, Fotoapparate, Videokameras (warum benötigte er mehrere?) - alleine von dem Verkauf dieser Sachen hätte ich ein paar Monate leben können.
    Das Auffälligste an der Wohnung aber waren die Bilder. Auch sie erinnerten mich auf fatale Weise an Papa, denn der hatte unsere Wände immer gerne mit Kunstwerken gepflastert, die er von seinen Reisen mitgebracht hatte. Den Karibikimpressionen ähnelten Pauls Bilder nur, was ihre Ausmaße betraf, nicht aber im Stil.
    Es waren großformatige, puristisch gehaltene Gemälde. Auf vielen befand sich nur eine Art Symbol, das in kurzen Strichen oder kleinen Punkten und meistens in einer einzigen Farbe auf die Leinwand gesetzt worden war. Ungewöhnlich schön sahen jedoch ihre Rahmen aus. Schlicht, aber edel, und nur sie verliehen den Kunstwerken (waren es denn Kunstwerke?) einen Hauch von Luxus. Irgendwo hatte ich diese Art von Bildern schon einmal gesehen, aber wo? Ich konnte mich nicht entsinnen.
    Paul jedenfalls hatte sich früher nie für Kunst interessiert. Warum tapezierte er dann seine Wände mit Gemälden? Obwohl auf ihnen eigentlich nicht viel zu sehen war, allenfalls eine Schlange oder ein Gecko, versetzten sie mich in eine merkwürdig entrückte Stimmung. Ich wurde müde und gedankenverloren, wenn ich sie betrachtete, und schalt mich selbst dafür, denn jedes Kind konnte mit kleinen Pinselstrichen einen orangefarbenen Kreis auf ein Stück Pappe setzen. Das war nichts Besonderes. Oder vielleicht doch?
    Ich legte den Kopf schräg, gähnte und registrierte schläfrig, dass ich einen Raum vergessen hatte. »Mensch, Frau Sturm«, knurrte ich mich an. Es war jene Tür, die ich bei meiner akuten Blasenschwäche angesteuert hatte - direkt am Ende des Flurs. Speisekammer, hatte Paul gesagt. Na gut. Ich konnte sie mir zumindest mal ansehen.
    Doch wie bei meiner Ankunft machte ich erst einen Schlenker aufs Klo. Ich hatte das Bedürfnis, mir die Hände zu waschen, nachdem ich so unbefugt ins Pauls Sachen herumgestöbert hatte.
    Während ich meine Finger einseifte, lupfte ich mit der Fußspitze den schweren Badezimmerteppich. Ich glaubte zwar nicht, dass es ein Geheimfach unter den Fliesen gab, aber man wusste ... »Igitt!«, keuchte ich und sprang einen Schritt rückwärts. Ein unnatürlich großer Schwarm Silberfischchen mit ganz erstaunlichen Körperumfängen wuselte ins Licht, um sich in planloser Hektik zwischen meinen Füßen zu versammeln. Sie mochten die Helligkeit nicht und benahmen sich, als hätten sie an LSD-Papierchen geschleckt.
    »Kusch«, zischte ich nach meinem ersten Schreck und versuchte, den Teppich wieder über sie zu breiten. Doch dann kam mir eine Idee - vielleicht konnte ich Berta mit ihnen besänftigen. Widerwillig bugsierte ich ein paar besonders fette Exemplare in Pauls Zahnputzglas, lief in sein Spielzimmer und leerte meine Beute neben der zuckenden Berta aus. »Leckerchen!«, flüsterte ich. Berta bewegte tastend ein Bein nach vorne und legte es siegessicher auf eines der zappelnden Fischchen. Geschmeidig schob sie ihren glänzenden Leib hinterher.

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