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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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Und wie ich das war. Die Spritze hatte ich erst vor wenigen Monaten bekommen - als Papa mich nach dem Kampf wieder zusammengeflickt hatte. Aber davon wusste Paul nichts. Ich versuchte, mein erschrockenes Weinen zu unterdrücken, während Paul mit ruhiger Hand meine Schnitte versorgte und mir erzählte, dass Ratten in diesem Haus zum Alltag gehörten und er schon alles Erdenkliche unternommen habe, um sie dauerhaft zu vertreiben. So sei das eben, wenn man am Wasser lebe. Er würde trotzdem nicht umziehen wollen. Außerdem kämen sie normalerweise nicht in die Wohnung. Nur in Ausnahmefällen.
    In Ausnahmefällen. Wie beruhigend.
    Ich wartete ab, bis er das Fläschchen mit dem Jod wieder verschlossen hatte, und sah ihn fest an. Er erwiderte meinen Blick mit unergründlicher Tiefe.
    »Ich muss mit dir reden«, sagten wir gleichzeitig.

Dialog im Dunkeln
    »Gut«, übernahm ich den schwierigen Anfang. »Wer zuerst?«
    Die Nacht war hereingebrochen. Nach dem Zwischenfall mit der Ratte hatte Paul mir Koffer, Aquarien und Terrarien ins Zimmer gestellt - den Volvo hatte er nach einigem Suchen in der Tiefgarage eines Viersternehotels gefunden. Während ich meine Tiere umsiedelte, machte er mir eine Kleinigkeit zu essen. Ich griff gierig zu, um den muffigen Fellgeruch von meinem Gaumen zu vertreiben. In der Zwischenzeit räumte Paul die Küche auf und verleibte sich dabei geschätzte sieben Stück Bitterschokolade ein.
    Jetzt langte er nach den Salzstangen und stopfte sich nachlässig eine Handvoll in den Mund. Langsam begann ich mich zu fragen, wie er es schaffte, so schlank zu bleiben. Schlank mit Bäuchlein.
    Paul kaute gierig und verschluckte sich dabei. Hustend fächerte er sich Luft zu.
    »Bist du zu dumm zum Essen, oder was?«, fragte ich gereizt.
    »Man kann sich doch mal verschlucken.« Paul klopfte gegen seine Brust. Dann räusperte er sich so lange, dass ich verleitet war, mit einzustimmen, da mir ebenfalls eine Salzstange in der Speiseröhre zu stecken schien. Er machte mich nervös damit. Vielleicht hörte er auf zu husten, wenn ich ihm zuvorkam.
    »Okay, dann fange ich eben an ...«
    »Nein, Ellie. Ich. Ich möchte anfangen.«
    »Nur wenn du mir vorher ein paar Fragen beantwortest - keine
    schlimmen Fragen. Ganz normale. Sie haben nichts mit Papa zu tun.«
    Paul zögerte. Bevor er es sich überlegen konnte, ergriff ich meine Chance.
    »Warum studierst du nicht mehr?«
    Er drehte sich unwillig von mir weg und lud sich den Rest der Salzstangen in den Mund.
    »Paul, bitte, ich bin doch nicht blöd. Du studierst nicht. Ein Medizinstudium sieht anders aus, das ist Stress hoch fünf. Und ich versteh es nicht - als du vorhin meine Kratzer verarztet hast, hab ich ganz genau gemerkt, dass das dein Ding ist...«
    »Ist es nicht«, entgegnete Paul hart. Mit einer aggressiven Bewegung griff er nach seinem Weinglas und nahm einen tiefen Schluck. Noch immer sah er an mir vorbei.
    »Und warum nicht? Es war immer dein Traum, in anderen Menschen herumzustochern.« Ich hatte ihn früher oft nur mit hysterischem Gebrüll davon abhalten können, mir meine Schürfwunden mit Mamas Nähnadeln zusammenzuschustern. Und seine Augen hatten geleuchtet, wenn er mir ein Pflaster aufs Knie kleben durfte, nachdem Mama oder Papa mich vor ihm, der Nadel und seinem Arztkoffer errettet hatte.
    »Ich möchte nicht darüber reden, Ellie. Okay?« Wie ein bockiger Teenager verschränkte er die Arme vor der Brust.
    Eigentlich hatte ich mich nicht so schnell abwimmeln lassen wollen. Aber es standen noch andere Themen an und vielleicht war es diplomatischer, dieses hier zu vertagen. Sollte ich ihn zu sehr verärgern - und wenn Paul nicht reden wollte, wollte er nicht reden -, verringerten sich meine Chancen, ihm glaubhaft zu machen, dass sein Vater ein Halbblut war. Also schwieg ich abwartend.
    Paul wandte sich mir wieder zu und seine Gesichtszüge entspannten sich etwas. Er kniete sich neben mich auf den Boden und stützte seinen Arm auf meine Knie. Mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln - einem sorgenvollen Lächeln, das mir gar nicht geheuer war - sah er zu mir auf.
    »Ich hab mit einem meiner früheren Kommilitonen gesprochen, der inzwischen seine eigene Praxis hat. Er hätte noch einen Platz für dich frei, kurzfristig, du könntest morgen schon zu ihm kommen. Ich bin mir sicher, dass er dir helfen kann.«
    »Helfen - bei was?«, fragte ich verwirrt.
    »Ellie. Schwesterchen.« Paul seufzte und streichelte meine Knie. »Das war vielleicht doch alles ein

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