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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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»Mahlzeit«, wünschte ich höflich.
    Als ich zurück ins Bad kam - ich musste mir dringend ein zweites Mal die Hände waschen -, hatten sich die Kollegen der zum Tode verurteilten Fischchen unter ihren flauschigen Schutz zurückgezogen und ich widerstand nur mühsam dem Bedürfnis, auf dem Teppich herumzutrampeln, bis ihrem munteren Paarungsreigen für alle Zeiten ein Ende gesetzt worden war. Doch vielleicht brauchte ich sie noch für Berta und Henriette. Paul hatte nur wenig begeistert geschaut, als ich ihn bat, mir lebendige Heimchen mitzubringen.
    Jetzt also zur Speisekammer - die keine Speisekammer war, wie ich sofort feststellte, nachdem ich endlich den Lichtschalter gefunden hatte. Es war eine Kammer, gut, aber völlig ohne Speisen. In der
    Ecke stapelten sich Holzplatten unterschiedlichster Qualitäten und Maserungen, es roch nach Lack und Farbe und auf den Regalbrettern über dem Tisch, der fast den gesamten Raum einnahm, befand sich ein beachtliches Arsenal an Nägeln, Schrauben, Hämmern, Bohrern, Pinseln und Sägen. Mit einem Medizinstudium hatte das hier rein gar nichts zu tun.
    Ich trat nach vorne, um erkennen zu können, was auf dem Tisch lag, obwohl ich es schon ahnte - ja, es war eines dieser seltsamen Bilder, das darauf wartete, seinen Rahmen zu bekommen. Paul stellte diese Rahmen her! Er bastelte Rahmen für Gemälde und hängte sie dann in seine Wohnung?
    Ein Rascheln zerstreute meine Gedanken binnen Sekundenbruchteilen in alle Himmelsrichtungen. Mein Kopf war komplett leer, als ich mit einer minimalen Bewegung meines Halses - und doch so ruckartig, dass mein Nacken schmerzte - dem Rascheln folgte und in zwei rot glänzende, stecknadelkopfgroße Augen blickte. Beim nächsten Atemzug, der mir furchtbar schwerfiel, drang ein fischigmodriger Geruch in meine Nase, vermischt mit dem durchdringenden Aroma nassen Fells. Die Ratte starrte mich gebannt an. Nur ihre Nase bewegte sich witternd auf und ab.
    »Ist okay, ich tu dir nichts, schön ruhig bleiben ...« Ich hob mein linkes Bein und setzte es ungeschickt zurück. Schon begann ich, die Balance zu verlieren, und torkelte nach hinten. Mit einem schrillen Quieken sprang mich die Ratte an, um sich mit allen vieren auf meine Brust zu heften. Ihre scharfen, biegsamen Krallen bohrten sich sofort durch den dünnen Stoff meines Pullis und ritzten mir die Haut auf. Obwohl mir vor Ekel beinahe schlecht wurde, griff ich beherzt zu und packte sie am Rückenfell. Wieder quiekte sie, diesmal jedoch deutlich angriffslustiger, schlüpfte unter meiner Hand hindurch und schob sich hoch auf meinen nackten Hals.
    Ich hatte keine übermäßige Angst vor Ratten, aber ich wollte sie auch nicht auf meinem Gesicht sitzen haben. Verzweifelt boxte ich meine Faust in ihren Hintern und nun schrien wir beide, sie vor Zorn und ich vor Ekel und Panik, weil sie sich immer noch nicht von mir lösen wollte. Ich strauchelte und krachte mit der Schulter gegen den Tisch.
    Das Gemälde geriet ins Rutschen und glitt sanft über uns zu Boden. Einen Moment lang waren die Ratte und ich unter ihm eingeschlossen, ein stickiges, dunkles Zelt für mich und die Bestie. Ich prustete, um Luft zu bekommen, denn der nasse, stinkende Leib der Ratte schmiegte sich fest auf meinen Mund. Noch einmal versuchte ich, sie zu packen und von mir zu lösen - vergeblich ...
    »Was ist denn hier los?« Schlagartig wurde es hell. Paul hatte das schwere Gemälde weggezogen. Die Ratte ließ sich fallen und rauschte beleidigt quiekend an ihm vorbei in den Flur.
    »Kacke, schon wieder eins von diesen Drecksviechern!« Fluchend setzte Paul ihr hinterher. Es krachte und schepperte, dann wurde die Eingangstür aufgerissen und gleich darauf zugeschlagen. »Verfluchte Mistkackdrecksviecher«, schimpfte Paul und mit einem Mal wusste ich wieder, wer mir so vortrefflich das Fluchen beigebracht hatte.
    Hustend wischte ich mir das Gesicht ab. Meine Haut brannte und meinen Pulli zierten mehrere Löcher. Unter meinem BH-Hemdchen sickerten warme, dünne Schlieren meine Rippen hinunter. Ich blutete.
    »Hat sie dich gebissen?«
    »Nein. Nur gekratzt«, erwiderte ich schwach. Paul zerrte mir den Pulli über den Kopf, zog mich ins Bad und schob mir den Wäschekorb unter den Hintern. Er betrachtete meinen Oberkörper ausgiebig, bevor er nach seinem Medizinköfferchen griff und mir mit geübten Bewegungen Jod auf die deutlich sichtbaren Krallenspuren direkt über meiner Brust tupfte. »Bist du gegen Tetanus geimpft?«
    »Ja, bin ich.«

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