Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
Vom Netzwerk:
einen kräftezehrenden Tag hinter mich gebracht. Vermutlich hatte ich die Ruhe bitter nötig gehabt.
    »Wenn ich frühstücke, hab ich immer das Gefühl, ein neues Leben zu beginnen«, fuhr Paul versonnen fort, ohne mich anzusehen. Seine Augen hingen am Wasser, das sich unter dem breiten Rumpf der Barkasse sanft zerteilte und seine Iris noch blauer schillern ließ. Nun war ich vollends irritiert. Paul liebte das Frühstücken? Wie mich hatte man ihn früher zwingen müssen, etwas zu sich zu nehmen, bevor es zur sechsten Stunde geklingelt hatte. Und die Musik, die aus dem minimalistischen CD-Player tönte, sorgte erst recht dafür, dass ich mich fragte, ob ich vielleicht noch träumte.
    »Ich frag dich, was kann mir schon geschehen«, sang eine Frauenstimme in bestechender Fröhlichkeit. »Glaub mir, ich liebe das Leben ...« Paul summte falsch mit und klemmte sich wieder hinter die Zeitung.
    Es ist Paul, nicht Papa, Paul, Paul, Paul, beschwor ich mich in Gedanken. Unter leichter Übelkeit zwang ich einen süßen Brötchenklumpen meine Kehle hinunter.
    »Was ist das für Musik?« Ich kannte dieses Lied nicht, obwohl ich zugeben musste, dass es mich mehr ansprach als das wüste Gebrüll, das früher aus Pauls CD-Player geschallt hatte. Metallica und Motörhead gehörten noch zu den lieblicheren Bands, die in seinem Plattenregal ihr Zuhause gefunden hatten.
    »Ich weiß es gar nicht genau«, erwiderte Paul aufgeräumt. »Hab ich von einem - von meinem - ähm, Kollegen bekommen. Irgendwie erinnert es mich an meine Kindheit, dich nicht?«
    »Nein.« Nein, das tat es wahrlich nicht.
    »Ich denke, Mama hat das gehört, als ich ein Baby war ...«
    Das wagte ich zu bezweifeln, aber ich ließ Paul in seinem Glauben. Wahrscheinlich war es Papa gewesen, der ab und zu altertümliche Schlager aufgelegt hatte, und den wollte ich jetzt möglichst elegant umgehen. Ich brauchte erst eine Strategie, um Paul zu überzeugen, und die hatte ich mir noch nicht zurechtgezimmert.
    »Also Semesterferien?«, lenkte ich das Gespräch wieder in andere Bahnen.
    »Ellie ...« Paul ließ genervt die Zeitung sinken. »Ich versuche, einen Bericht zu lesen.«
    »Eben hast du doch auch geredet.«
    »Jetzt lese ich aber. Okay?«
    »Okay«, murrte ich. »Was für ein Kollege eigentlich?« Ich biss mir auf die Zunge. Die Frage war einfach über meine Lippen gesprungen. Paul stöhnte auf und warf die Zeitung hinter sich, wo sie sich raschelnd auf dem marmornen Küchenfußboden entfächerte.
    »Mensch, kannst du penetrant sein. Ein Kollege, den ich nachher sowieso noch treffen muss. Bei der Gelegenheit werde ich nach deinem Auto suchen. Musst nicht mitkommen.«
    »Ist ja schon gut. Danke«, gab ich klein bei. Denn dieses »Musst nicht mitkommen« klang wie ein »Es wäre mir lieber, wenn du nicht mitkommst«. Ich hatte nichts dagegen. Es würde mir genug Zeit und Ruhe verschaffen, mir einen Plan und möglichst viele Argumente zurechtzulegen und nebenbei die Wohnung nach dem Safeschlüssel zu durchkämmen. Mit Sicherheit wusste Paul nicht, dass der Schlüssel in seinen vier Wänden versteckt war.
    Paul diese Wohnung in Hamburg zu kaufen und zu renovieren war Papas letzter Versuch gewesen, eine Versöhnung herbeizuführen, und er hatte sich dafür mächtig ins Zeug gelegt. Ob er damals schon den Schlüssel versteckt hatte? So musste es gewesen sein, denn mir war nicht bekannt, dass er Paul anschließend noch einmal besucht hatte. Es sei denn, es war heimlich geschehen. Zum ersten Mal kam mir die Frage in den Sinn, woher Papa eigentlich all das Geld hatte. Diese Wohnung hier musste ein Vermögen gekostet haben. Mitten in Hamburgs Speicherstadt, wo nur irgendwelche hippen Geschäftsleute ihre Büros besaßen oder Multimillionäre Waren horteten. Es roch nach einer Sondergenehmigung und vor allem roch es nach Papas dubiosen Nebentätigkeiten, denen wir es nun zu verdanken hatten, dass er verschollen war.
    Die Einrichtung hingegen konnte nicht von Papa stammen. Er hatte Paul damals einen großzügigen Ikea-Gutschein überreicht -wie schon bei dessen erstem Auszug von zu Hause in die Kölner WG. Doch ich hatte hier noch kein Möbelstück entdeckt, das mich nur annähernd an Ikea erinnerte.
    Ich tat es auch dann nicht, als Paul nach einer weiteren ungesunden Brötchenhälfte und einer ausgiebigen Klositzung aufgebrochen war, um nach meinem Auto zu suchen. Viele Hinweise hatte ich ihm nicht geben können, denn selbst das Parkticket war nicht mehr auffindbar gewesen.

Weitere Kostenlose Bücher